Der Duft von Orangen (German Edition)
daran erinnert. Auf diese Weise hatte ich auch schon viele Sachen gefunden. Einmal war ich aus einem Laden herausmarschiert, die Finger um eine Handvoll Lippenpflegestifte geklammert, die ich mir irgendwie gegriffen haben musste. Das war mir so peinlich, dass ich es nicht einmal meiner Mutter erzählt hatte. Es war schon viele Jahre her, aber ab und zu fand ich immer noch einen davon in einer Mantel- oder Handtasche.
Die Kette hatte ich jedoch nicht in einer Episode verloren, dessen war ich mir beinahe sicher. Ich war vom Mocha aus zu Fuß nach Hause gegangen. Der Wind war so kalt gewesen, dass die feinen Härchen in meiner Nase vereist waren. Das konnte natürlich dazu geführt haben, dass ich den Duft von Orangen nicht wahrgenommen hatte. Andererseits war es auch möglich,dass ich eine Episode ohne vorherige Warnsignale erlebt hatte. Viele Menschen mit dissoziativen Störungen bekommen nie eine Warnung und können sich auch später nicht an das erinnern, was geschehen war.
Dieser Gedanke machte mich schneller nüchtern als ein Highschoolkid, das nach dem Abschlussball vom Sheriff angehalten wird.
Ich blinzelte ein paarmal, um die Tränen zurückzudrängen, die in meinen Augen brannten. Dann atmete ich langsam und tief ein. Und aus. Und wieder ein. Während ich mich auf den dritten Atemzug konzentrierte, merkte ich, dass ich ein wenig ruhiger war. Nicht viel, aber genug, um mein Herzrasen in den Griff zu bekommen.
Als vor ein paar Jahren die Schulmedizin mit ihrem Latein am Ende war und immer noch keine Diagnose für das hatte, was mit meinem Gehirn geschehen war, hatte ich alternative Heilmethoden entdeckt. Ich war es leid gewesen, von Nadeln gepikst zu werden und Tabletten zu nehmen, deren Nebenwirkungen oft so viel schlimmer waren als die Linderung, die sie versprachen. Per Akupunktur konnte mein Leiden nicht besser behandelt werden als durch westliche Medizin, aber ich nutzte sie lieber, als meinen Körper täglich mit potenziell giftigen Chemikalien vollzustopfen. Meditationen konnten meine Ängste nicht vollständig vertreiben, aber sie halfen mir, meine Stimmung zu verbessern. Und nachdem ich durch viel Ausprobieren herausgefunden hatte, dass ich eher anfällig für eine Episode war, wenn ich müde, überstimuliert, gestresst oder Ähnliches war, gehörte die Meditation zu meinem täglichen Ritual.
Ich hatte das Gefühl, es funktionierte. Es schien zumindest so. Die letzten beiden Jahre war ich episodenfrei gewesen. Bis vor Kurzem. Und selbst diese drei waren so kurz gewesen, so belanglos …
„Ach Mist.“ Meine Stimme klang rau und angespannt.
Mein Spiegelbild im Schlafzimmerspiegel zeigte mich mit blassen Wangen, tiefen Schatten unter den Augen und angespannten Lippen, die sich bemühten, einen Schluchzer zu unterdrücken.Die Episoden waren niemals schmerzhaft gewesen, und doch taten sie mir mehr weh als alles andere.
Ich stieß den angehaltenen Atem aus und konzentrierte mich. Dann schlüpfte ich in eine weiche Schlafanzughose und ein abgetragenes T-Shirt mit Ernie und Bert drauf. Ich hatte es in der Junior-Highschool gekauft und erst wiederentdeckt, als ich für meinen Umzug hierher gepackt hatte. Es saß ein wenig enger als damals, aber es war so gemütlich. Es fühlte sich an wie ein kleines Stück Heimat.
Nachdem ich mich umgezogen hatte, setzte ich mich im Schneidersitz aufs Bett. Ich hatte keine besondere Matte oder einen Altar, und ich entzündete auch kein Räucherstäbchen. Meditation war für mich mehr etwas Körperliches als etwas Geistiges. Im Laufe der Jahre hatte ich viel über Biofeedback gelesen, und auch wenn ich bezweifelte, dass ich jemals in der Lage sein würde, meinen Herzschlag oder meine Gehirnwellen aktiv zu kontrollieren, wie es einige ausgebildete Yogis können, glaubte ich daran, dass Meditation helfen konnte. Das spürte ich.
Ich legte meine Hände auf die Knie, die Handflächen nach oben, Zeigefinger und Daumen berührten sich leicht. Ich schloss die Augen. Ich summte nicht das traditionelle Om Mani Padme Om oder einen der anderen Gesänge. Ich hatte etwas gefunden, das für mich besser funktionierte.
„Würstchen mit Soße und Kartoffelbrei, lecker. Würstchen mit Soße und Kartoffelbrei, lecker.“
Ich ließ die Worte bei jedem Ausatmen aus mir herausfließen. Mit jedem Einatmen versuchte ich, nicht nach Orangenduft zu schnuppern. Ich brauchte länger als sonst, um mich in einen ruhigen, tranceähnlichen Zustand zu versetzen. Irgendwann entspannten sich meine
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