Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate
Erinnerung an meinen hysterischen Anfall in der vergangenen Nacht zurück, und ich stellte mir Etiennes Reaktion vor, wenn er mich so erlebt hätte. Er, der immer so selbstbeherrscht und besonnen war. Selbst als ich ihm von meiner Schwangerschaft erzählte und er so ungewohnt schockiert wirkte, hatte er nicht vollkommen die Kontrolle über sich verloren. Doch dann rief ich mir jenen Augenblick im Wagen ins Gedächtnis, als sein Gesicht seine wahren Gefühle verraten hatte, seine Unsicherheit und Angst.
Hinter seiner scheinbar so makellosen Fassade lauerte etwas Zerbrechliches und Dunkles. Aber was? Was hatte er vor mir verborgen? Was hatte ihn so verletzlich gemacht, und warum hatte er versucht, diesen Teil seines Wesens durch seine distanzierte, sachliche Art zu kaschieren?
Den ganzen Tag lang blieb ich im Bett liegen und sah zu, wie die Sonnenstrahlen durch das Zimmer wanderten. Weder nahm ich ein Bad, noch trank oder aß ich etwas. Als es an die Tür klopfte, rief ich, dass ich nicht gestört werden wolle. Ich sah zu, wie die Schatten länger wurden, bis sich die Dunkelheit herabsenkte.
Als die Sonne abermals durch die Fenster schien, hatte ich mit einem Mal schrecklichen Durst. Mir war nach frisch gepresstem Orangensaft. Ich griff nach der weißen Unterhose, die neben mir auf dem Bett lag, und zog sie an. Als ich aufstand, meldeten sich die Schmerzen in meinen Knien zurück. Vage erinnerte ich mich daran, dass sie blutig gewesen waren, als ich mich in der vorletzten Nacht ausgezogen hatte, und besah sie mir erneut. Es hatte sich Schorf gebildet, darum herum prangte ein Bluterguss. Ich zog an der Klingelschnur, um jemanden vom Zimmerservice zu rufen.
Kurz darauf klopfte es sachte an die Tür. Ich wickelte das Laken um die Schultern, ging zur Tür und öffnete sie, um dem Jungen zu sagen, er möge mir einen Krug Orangensaft bringen. Aber statt eines Hoteljungen stand Monsieur Henri vor der Tür.
» Mademoiselle«, sagte er und wirkte zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, nervös. » Unten in der Lobby … es ist mir sehr unangenehm …«
» Was denn?«
» Unten in der Lobby …«, begann er erneut, ohne den Satz zu beenden.
» Ja, Monsieur Henri, bitte, ich bin müde und würde mich gern wieder hinlegen.«
» Da ist ein Mann«, sagte er. » Ein Mann, der sagt, er kenne Sie.«
Mit einem Mal fürchtete ich, meine Beine würden den Dienst versagen. Es war ein Irrtum, oder man hatte mir einen schrecklichen, makabren Streich gespielt. Etienne war nicht tot. Er lebte und wartete unten in der Hotelhalle auf mich.
» Monsieur Duverger?«, rief ich und legte Monsieur Henri die Hand auf die Schulter. Er drehte kaum merklich das Gesicht, und im selbem Moment wurde mir klar, dass ich ihn beleidigt hatte, indem ich ihn anfasste. Ich nahm die Hand wieder weg. » Entschuldigen Sie, aber ist er es? Etienne Duverger?«
Monsieur Henri hob das Kinn ein wenig. » Ich versichere Ihnen, Mademoiselle O’Shea, dass es gewiss nicht Monsieur Duverger ist, von dem Sie sprechen. Es ist ein … Araber, Mademoiselle. Ein Araber mit seinem Kind.«
Ich blinzelte. » Ein Araber?«
» Ja. Sein Name hat irgendetwas mit der Sahara zu tun. Ich habe ihn nicht behalten. Und wirklich, Mademoiselle, ich habe ihm versichert, dass es nicht Stil des Hauses ist, Nicht-Europäer in unser Hotel zu lassen, geschweige denn in die Gästezimmer. Da bestand er darauf, dass ich persönlich mit Ihnen spreche. Er war …« Er unterbrach sich. » Er machte einen ziemlich bedrohlichen Eindruck. Es scheint, als hätte er …«, er beugte sich näher zu mir, sodass ich einen blumigen Duft wahrnahm, Jasmin, wie mir schien, » … Ihnen etwas mitgebracht. Essen.« Er trat einen Schritt zurück. » Das ist unmöglich. Ich habe ihm gesagt, dass Sie etwas von unserer umfangreichen Speisekarte bestellen würden, sollten Sie Hunger haben. Aber er blieb mit seiner tajine und dem Kind stehen, wo er war, und ich bin sicher, dass er sich noch immer nicht von der Stelle gerührt hat. Der Junge hat ebenfalls etwas zu essen in der Hand, eine Art Schnur mit beignets. Ich muss schon sagen, dass das Essen einen unangenehmen Fettgeruch in der Lobby verströmt. Und auch wenn sich zu dieser Tageszeit nur wenige Gäste im Hotel aufhalten, so wünsche ich doch, dass dieser Mann mit dem Kind weg ist, bevor …«
» Sie können sie hochschicken, Monsieur Henri«, sagte ich, und ich sah, wie sich seine Augen weiteten. Dann wanderten sie zu meinem losen, ungekämmten Haar und meinem
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