Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate
gekommen, weil ich hoffe, Manons Bruder hier zu finden.«
Aszulays Gesicht nahm einen unbeweglichen Ausdruck an. » Manon?«, sagte er, und die Art, wie er ihren Namen aussprach, erfüllte mich mit einer bangen Vorahnung. Er sah mich wieder an. » Sie … Sie suchen nach Etienne?«
Ich stand so rasch auf, dass ich mit dem Saum meines Kleides das Glas umstieß und es auf den gefliesten Boden fiel, wo es zersprang. » Sie kennen ihn?« Ich ging um den Tisch herum.
Er stand ebenfalls auf, und ich musste den Kopf heben, um ihn anzusehen. » Sie kennen Etienne? Ist er hier? Wo ist er? Bitte, wo ist er?«
» Mademoiselle O’Shea, sind Sie …«
Manon war ebenfalls aufgestanden. » Lass uns allein, Aszulay«, sagte sie laut und mit fester Stimme. Nichts mehr an ihr erinnerte an die schwache, anlehnungsbedürftige Frau von zuvor. » Ich will, dass du jetzt gehst. Ich will allein mit ihr darüber reden.«
Darüber hatte sie gesagt. Nicht über ihn.
» Mademoiselle O’Shea«, sagte Aszulay erneut, » Etienne ist …«
Wieder fiel Manon ihm ins Wort. »Aszulay!« Ihr Ton war barsch. »Das ist mein Haus, und du wirst nun tun, was ich dir sage.«
Also doch. Mit einem Mal sprach sie im selben Ton mit ihm wie mit mir.
Er öffnete den Mund, als wollte er ihr widersprechen, schloss ihn aber wieder. Dann nahm er die lange indigofarbene Stoffbahn, seinen Turban, vom Sofa, durchquerte in langen Schritten den Innenhof und verschwand durch das Tor, das krachend hinter ihm zufiel.
» Falida. Räum den Tisch ab und erledige den Abwasch. Badou, hilf ihr!«, sagte Manon im Befehlston.
Als die Kinder alles hineingetragen hatten, klopfte Manon auf den Platz neben sich. Sie saß wieder auf dem Sofa. » Kommen Sie und setzen Sie sich neben mich«, sagte sie, und ihr mit einem Mal freundlicher Ton beunruhigte mich noch mehr als ihr barsches Benehmen von zuvor. Ich rührte mich nicht.
» Kommen Sie«, sagte sie erneut und lächelte. » Setzen Sie sich zu mir, dann erzähle ich Ihnen, wo Etienne ist.«
Ich schluckte und kam ihrer Aufforderung nach. Kaum hatte ich neben ihr Platz genommen, ergriff sie meine Hand. »Was für kleine Hände Sie haben«, sagte sie und streichelte über meinen Handrücken. »Ich kann sehen, dass Sie körperliche Arbeit verrichtet haben, aber keine besonders harte, oder irre ich mich, Sidonie?« Sie wechselte zu meinem Vornamen und sprach ihn so vertraut aus, als hätte sie ein Recht dazu. Dann drückte sie mit beiden Händen so fest, dass es schmerzte. Ich versuchte, ihr meine Hand zu entziehen, doch sie ließ sie nicht los. Ich erschrak angesichts ihrer Kraft und begriff, dass ich mich vor ihr in Acht nehmen musste.
» Ich habe schon immer gearbeitet«, sagte ich und dachte abwesend an die Hausarbeit, die ich zu Hause erledigt hatte, an die Wäsche, das Kochen und die Arbeit im Garten.
» Aber Sie haben nie wie ich gearbeitet. Nicht die Art von Arbeit, zu der ich gezwungen war, um zu überleben.« Wäre die Situation eine andere gewesen, hätte ich den Ton ihrer Stimme als kokett gedeutet.
Ich rief mir in Erinnerung, was Etienne mir über sein Elternhaus erzählt hatte. » Aber … als Sie jung waren … Etienne hat mir erzählt, dass seine Familie ein privilegiertes Leben führte.«
Als sie nicht antwortete, ergriff ich abermals das Wort. » Und dieses Haus, in dem Sie leben. Wenn ich mir Ihre Umgebung betrachte, kann Ihr Leben so schlimm …«
Sie schnalzte so laut mit der Zunge, dass ich unwillkürlich verstummte. » Ich habe nicht immer in so einem Haus gewohnt.« Ihre Worte verwirrten mich. Sie fuhr mit den Fingerspitzen über den Knöchel meines Mittelfingers sowie den Handballen, an dem vom Reiben des Pinsels über die Jahre hinweg Hornhaut gewachsen war. Auch wenn jetzt kaum mehr etwas davon zu spüren war, hörte sie nicht auf darüberzustreichen.
» Woher kommt das?«, fragte sie.
» Vom Halten eines Pinsels.«
Sie schüttelte den Kopf, noch immer dieses grässliche Lächeln auf den Lippen. » Es wird ja immer interessanter.«
» Was … was meinen Sie damit?«
Nach einer Weile, die mir endlos vorkam, sagte sie: » Aber Sie haben doch meine Bilder gesehen.«
Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen. » Die Bilder im Haus? Sie haben die gemalt?« Ich hatte lauter gesprochen als beabsichtigt.
» Sie glauben mir nicht?«, sagte sie träge.
» Nein. Ich meine … doch, natürlich glaube ich Ihnen. Es ist nur …« Meine Stimme erstarb.
Noch ein Geheimnis. Etienne war mit einer
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