Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate
ich gebraucht? Hatte ich mich verirrt? Ich weiß nur noch, dass ich in ein Taxi stieg, das mich auf der Fahrt ordentlich durchrüttelte, bis ich schließlich in die Geborgenheit meines Zimmers gelangte.
Während ich auf dem Bett lag, presste ich noch immer das Taschentuch ans Gesicht. Er ist tot, dachte ich wieder und wieder. Etienne ist tot. Er ist tot.
Wieder fühlte ich mich an die Stunden nach meiner Fehlgeburt erinnert, als fast die gleichen Worte in meinem Kopf widerhallten.
Meine Augen und mein Hals brannten, während ich wieder an mein totes Baby dachte und daran, nun auch Etienne für immer verloren zu haben. Ich hatte meine ganze Energie darauf gerichtet, ihn wiederzufinden. Und selbst wenn er mich zurückgewiesen hätte, hätte ich wenigstens gewusst, dass es ihn gab. Allein dieses Wissen wäre ein Trost für mich gewesen; außerdem hätte ich mich an die Hoffnung klammern können, dass er eines Tages wieder vor meiner Tür in der Albany Road stehen würde – wie damals, als er unverhofft bei mir vorbeigekommen war.
Im Geiste sah ich seine Finger, die sich um meine Hand schlossen. Nie wieder. Nie wieder …
Die Arme um den Oberkörper geschlungen, lag ich auf dem Rücken und wiegte mich hin und her, als ich plötzlich hörte, wie ein Wimmern aus meiner Kehle drang. Es war jetzt dunkel im Zimmer und furchtbar heiß. Vom Djemma el Fna drang ein gedämpftes Dröhnen an mein Ohr.
Meine Brust und mein Kopf schmerzten, und ich bekam kaum Luft. Wie war Etienne gestorben? Hatte er nach mir gerufen, als er im Sterben lag, oder war sein Tod so unvermittelt gewesen, dass kein Wort mehr über seine Lippen gekommen war?
Nun würde ich nie mehr erfahren, warum er mich verlassen hatte. Wieder durchlebte ich die Stunden in dem Hotelzimmer in Marseille, in denen ich mit mir gerungen hatte, ob ich nach Marrakesch weiterreisen oder doch lieber nach Hause zurückkehren sollte. Doch ich hatte mich entschieden, herzukommen und hier Antworten auf meine Fragen zu finden.
Und nun hatte ich sie. Ich hatte eine Antwort. Nicht die auf die Frage, warum er mich verlassen hatte. Sondern eine andere, schreckliche, vollkommen unerwartete Antwort.
Es war nicht gerecht: zuerst das Kind und nun auch Etienne.
Ich bemühte mich, ruhig zu atmen, bemühte mich, meine Angst zu kontrollieren. Doch die Panik war so übermächtig, und mein Herz schlug so wild, dass ich das Gefühl hatte, es würde mich zerreißen. Ruckartig setzte ich mich auf, keuchte in der heißen Luft. Erlitt ich gerade einen Herzanfall und würde ich ebenfalls sterben, hier, wie Etienne?
Du stirbst nicht, Sidonie. Du stirbst nicht. Reiß dich zusammen.
Ich wollte zum offenen Fenster gehen und mich hinauslehnen, um Atem zu schöpfen, aber es kostete mich zu viel Anstrengung, die wenigen Meter zu überwinden, also ließ ich mich aufs Bett zurücksinken und presste die Hände an meine schmerzende Brust.
Wieder musste ich daran denken, wie mein Kind wohl ausgesehen hätte, und unwillkürlich kam mir Badous kleines Gesicht in den Sinn. Er war so gelassen, trotz seines traurigen Schicksals, das ihn mit einer grausamen, gefühlskalten Mutter geschlagen hatte. Ich rief mir in Erinnerung, wie seine kleine Hand meine ergriffen hatte, so voller Vertrauen. Die Augen geschlossen, atmete ich kurz und stoßweise ein, bis ich mich erneut aufsetzte. Ich schnürte die Schuhe auf, kickte sie auf den Boden, knöpfte hastig mein Kleid auf und zog mich vollständig aus. Als ich die Strümpfe abstreifte, spürte ich einen Schmerz und sah, dass meine Knie aufgeschürft waren und dass die Strümpfe an dem getrockneten Blut festklebten. Ich hatte keine Ahnung, wie das geschehen war.
Nackt ließ ich mich wieder auf das weiche Bett zurückfallen und überließ mich abermals meinen Tränen, ohne mich darum zu scheren, ob man mich draußen auf dem Korridor hören konnte.
Ich hatte nicht erwartet, dass ich tatsächlich einschlafen würde, doch am nächsten Morgen wurde ich durch die Sonnenstrahlen geweckt, die mir ins Gesicht schienen. Ein paar Sekunden blieb ich noch ruhig liegen und blinzelte im blendenden Tageslicht, ehe die Erinnerung an das, was geschehen war, wieder wie eine Welle über mir zusammenschlug.
» Etienne ist tot«, sagte ich laut. » Etienne ist tot.« Tot.
In meinem Kopf hämmerte es. Ich schlug das Bettlaken zurück und betrachtete meinen Körper. Nie zuvor hatte ich ohne Nachthemd geschlafen, auch nicht in den gemeinsamen Nächten mit Etienne.
Langsam kam auch die
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