Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate
nur heute, sondern im Laufe seines gesamten kurzen Lebens.
» Sie ist zutiefst unglücklich«, sagte Aszulay. » Die Gründe kennt sie allein. Ich weiß nicht, warum sie Ihnen das erzählt hat.«
» Und was ist dann die Wahrheit? Wo ist Etienne? Sie wissen doch, dass sie es mir nicht sagen wird. Ich merke, dass wir, Sie und ich, in einer ähnlichen Lage sind. Oder nicht?« Ich bin – war, bin, ich weiß nicht, was – Etiennes Geliebte, und Sie sind Manons Geliebter.
» In einer ähnlichen Lage? Ich weiß nicht, was Sie damit meinen. Ich weiß nur, dass Etienne in Marrakesch war. Er hat ungefähr zwei Wochen lang bei Manon gewohnt. Dann plötzlich ist er wieder verschwunden.«
» Ist er nach Amerika zurückgekehrt?« Konnte es sein, dass wir aneinander vorbeigereist waren? War er nach Albany zurückgegangen und hatte mich dort vergeblich gesucht?
» Nein. Er sagte, er würde in Marokko bleiben, nun, da er …« Er sah Badou wieder an.
» Ist das alles? Können Sie mir nichts weiter sagen?«
» Vielleicht sollten wir ein andermal weiterreden.«
» Wann?«
» Ein andermal«, wiederholte er. Dann nahm er Badou an der Hand und ging.
Den Rest des Tages verbrachte ich in einem Zustand sich widerstreitender Gefühle. Ich lag auf dem Bett oder saß am Tisch und blickte aus dem Fenster. Am liebsten wäre ich zu Manons Haus gerannt, hätte sie zur Rede gestellt, von ihr verlangt, mir die Wahrheit zu sagen. Aber eine merkwürdige Erschöpfung hatte sich meiner bemächtigt, ich war unfähig, mich mehr als ein paar Meter zu bewegen. Nur wenige Tage zuvor, als ich Manon gefunden hatte, war ich voller Hoffnung gewesen, endlich Etienne zu finden. Dann hatte sie mir gesagt, dass er tot sei, und mich damit in tiefe Verzweiflung gestürzt. Und nun … Wenn ich Aszulay Glauben schenkte, und das tat ich – natürlich glaubte ich ihm mehr als Manon –, war Etienne nicht tot, sondern lebte und hielt sich irgendwo in Marokko auf.
Ich war der Antwort auf meine Frage, warum er mich ohne ein Wort verlassen hatte, keinen Schritt nähergekommen. Doch hatte sich etwas verändert. Eine Nuance. Überzeugt, er sei tot, hatte ich um Etienne getrauert. Etwas in mir war dabei erloschen. Es fehlte nun. Und die Erkenntnis, dass er lebte, hatte nichts daran verändert.
Über all das grübelte ich nach, versuchte, es zu verstehen. Ich aß ein paar Happen des kalten Lamm-Couscous und leckte die fettigen Finger sauber. Ich trank den restlichen Orangensaft. Dann wusch ich meine zerschundenen Knie und untersuchte die Aufschürfungen und Blutergüsse.
Inzwischen war es wieder dunkel geworden. Ich entledigte mich der Schuhe und Kleider, legte mich erneut nackt auf das weiche Bett und spürte die nächtliche Hitze auf meiner Haut.
Am Morgen hatten sich Fliegen über die verkrusteten Überbleibsel in der tajine hergemacht. Ich ließ mir ein Bad ein und steckte das Haar hoch. Dann zog ich mir ein sauberes Kleid an und schüttete die Essensreste in den Abfalleimer. Schließlich verließ ich das Hotel und fuhr mit einem Taxi zu dem Tor in der Stadtmauer der Medina.
Es war an der Zeit, Manon zur Rede zu stellen. Obwohl ich sie am liebsten nie wieder gesehen hätte, konnte ich es unmöglich dabei belassen.
Ich würde sie nicht in dem Glauben lassen, es sei ihr gelungen, mich in die Flucht zu schlagen. Und ich würde bleiben, bis sie mir verriet, wo ich Etienne finden konnte.
VIERUNDZWANZIG
A ls ich kurz nach neun Uhr bei Manon eintraf, spielte Badou im Innenhof mit einem gelben Welpen mit weißen Pfoten und einem eingerissenen Ohr.
» Bonjour, Badou«, sagte ich, nachdem mich Falida hereingelassen hatte, ehe sie lustlos fortfuhr, den Boden mit einem Handbesen zu fegen. » Wo ist deine Mutter?«, fragte ich.
» Sie schläft«, antwortete er und schmiegte den kleinen Hund an seine Brust. Der Welpe knabberte an seinen Fingerknöcheln, und der Junge sah lächelnd zu ihm hinunter, ehe er den Blick zu mir hob. » Schauen Sie, mein Hund.«
Ich setzte mich auf den Rand des Springbrunnens. » Gehört er wirklich dir?«, fragte ich.
Badou schüttelte den Kopf. » Non«, gab er traurig zu. » Er gehört Ali vom Haus gegenüber. Manchmal lässt Ali mich mit ihm spielen. Aber ich hätte so gern, dass er mir gehört. Ich möchte auch einen Hund.«
Ich dachte an Zinnober und den Trost, den sie mir gespendet hatte, obwohl ich ja zehn Jahre älter gewesen war als Badou, zu dem Zeitpunkt, da sie in mein Leben kam. »Ich weiß«, sagte ich. »Vielleicht bekommst
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