Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate
nicht, Mademoiselle O’Shea?«, sagte Aszulay und blickte mich missbilligend an. Irgendwie schien er verärgert zu sein. Ich wusste, dass es besser wäre, zu gehen und ihn nicht weiter auszufragen. Aber ich konnte nicht einfach so gehen, wollte unbedingt mehr aus ihm herausbringen. » Dass Sie mich so etwas überhaupt fragen«, fuhr er fort.
» Ich weiß nicht, was Sie …«
Er schüttelte den Kopf. » Gewiss ist es in Ihrem Land auch nicht anders. Es ist überall auf der Welt das Gleiche. Der Mann hat eine Ehefrau. Und der Mann hat eine Geliebte. Es gibt Kinder.«
Ich wartete, dass er weitersprach.
» Manons Mutter – Rachida Maliki – war Dienerin im Haus von Marcel Duverger. Monsieur Duverger und sie …« Er stockte. » Sie hatten über eine lange Zeit ein Verhältnis. Manon hat mir erzählt, dass Monsieur Duverger zunächst allein in Marrakesch lebte, dann für mehrere Jahre nach Frankreich zurückging, ehe er erneut herkam, nachdem die Franzosen das Land besetzt hatten. Manon wurde in der Zeit davor geboren. Doch als sich Monsieur Duverger wieder in Marrakesch niederließ, brachte er seine Familie mit, seine Frau und die beiden Söhne aus Paris. Und Rachida Maliki arbeitete weiter im Haus der Duvergers.«
Noch nie hatte Aszulay mir gegenüber so viel auf einmal gesprochen. Ich merkte, dass ich ihn anstarrte, förmlich an seinen Lippen hing. Mit einem Mal fiel mir sein sinnlicher Mund auf. Sein gutes Französisch mit dem arabischen Akzent klang rhythmisch und melodisch.
Er tippte sich an die Schläfe. » Oft ahnt die Frau etwas. Aber wäre Madame Duverger dahintergekommen, hätte sie Rachida nicht länger in ihrem Haus geduldet. Außerdem war sie nett zu ihr und Manon.«
» Sie kannte Manon?«
» Manon wuchs zunächst bei ihrer Großmutter auf, doch als sie älter wurde, nahm ihre Mutter sie mit in das große Haus der Duvergers, um ihr bei der Arbeit zu helfen. Manon hat mir erzählt, dass Madame Duverger ihr oft ein kleines Geschenk machte oder ihr Kleider gab, die sie nicht mehr trug. Manon wusste, wer ihr Vater war. In der Medina von Marrakesch kennen alle den Vater eines Kindes, man macht kein Geheimnis daraus. Aber im Französischen Viertel ist es anders.
Manchmal spielte Manon mit Etienne und Guillaume. Aber man hatte ihr eingebläut, ihnen nicht zu verraten, dass sie denselben Vater hatte wie die beiden, denn sonst hätte ihre Mutter die Stelle verloren. Und auf die Zuwendungen verzichten müssen, die sie von Monsieur Duverger bekam.«
» Also wusste es Etienne gar nicht?«
Aszulays Miene veränderte sich kaum merklich. » Er wusste es lange nicht. Manon war einfach nur die Tochter einer Dienerin. Aber wie Sie selbst bemerkt haben, ist Manon jemand, der genau weiß, was er will. Sie lernte Französisch, als wäre es ihre Muttersprache. Sie war – ist, wie Sie ja selbst sehen – schön. Sehr …« Er schüttelte unwirsch den Kopf und sagte etwas auf Arabisch. » Mir fällt das passende Wort auf Französisch nicht ein. Jedenfalls hat sie die Gabe, Männer verrückt zu machen. Seit sie fünfzehn war, sind die Männer hinter ihr her.«
Ich kannte das Wort, nach dem Aszulay gesucht hatte. Sinnlich. Begehrenswert. Ich konnte mich ja selbst davon überzeugen, als sie mit Aszulay flirtete. Auch war mir nicht entgangen, dass sie sich der Macht, die sie über Männer hatte, durchaus bewusst war. Kannte Aszulay sie denn damals schon? Seit sie fünfzehn war? Liebte er sie schon so lange?
»Manon wollte nie in die Fußstapfen ihrer Mutter treten und eine marokkanische Bedienstete sein, deren Leben sich auf Haus und Innenhof beschränkte«, fuhr Aszulay fort. »Sie wollte einen französischen Mann haben, der sie so behandelte, wie sie es bei anderen französischen Paaren gesehen hatte. Und sie hatte französische Männer, jede Menge.« Wieder musste ich an diesen Olivier denken, der aus ihrem Schlafzimmer gekommen war. »Aber keiner von ihnen hat sie geheiratet; sie sahen das in ihr, was sie war.« Aszulay hielt einen Moment lang inne. »Manon ist weder Marokkanerin noch Europäerin. Aber damit ist sie nicht die Einzige – in Marokko gibt es viele Frauen wie sie. Die meisten schaffen es dennoch, ihren Platz im Leben zu finden. Doch Manons Fehler war, dass sie sich gleichzeitig mehreren Männern hingab. Sie wollte weder eine marokkanische Ehefrau sein noch eine chikha – eine Mätresse. Das ist hierzulande sozusagen ein Beruf.«
Neue Fragen taten sich auf, Fragen, auf die es keine einfachen
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