Der Duft von Tee
okay? Aber jetzt wissen wir es, und wir können etwas dagegen tun. Wir müssen handeln.«
Ich nicke und presse die Lippen aufeinander. Wir hören Rillas beruhigendes Flüstern aus der Küche.
»Sie können heute Nacht bei uns bleiben«, sagt Pete entschieden.
Marjory wendet sich mir zu. »Wirklich? Ich könnte auch …«
»Nein, schon gut«, sage ich. »Bitte, lass sie bei uns bleiben.«
»Okay.« Sie seufzt. »Sehr gut. Wir finden eine Lösung. Diese Frauen brauchen eine Organisation, die sie schützt und ihnen hilft, wenn ihnen so etwas Schlimmes zustößt. Don hat einen Freund, der Anwalt ist und vielleicht helfen kann, Anklage zu erheben und den Papierkram zu erledigen, damit Jocelyn einen neuen Pass bekommt, falls nötig. Don telefoniert gerade herum, um sich zu erkundigen, was getan werden muss. Ihre Arbeitgeber haben immer noch ihren Pass, und sie werden alles versuchen, damit sie nicht über das redet, was vorgefallen ist. Wer weiß, wozu sie fähig sind?«
»Es ist okay«, sage ich schnell. »Wir kümmern uns um sie. Wir kümmern uns um alle beide. Platz haben wir genug.«
»Du solltest nach Hause zu Don gehen, du siehst erschöpft aus. Wir nehmen sie mit in unsere Wohnung und quartieren sie dort ein«, sagt Pete zu Marjory.
Marjory sieht ihn dankbar an und steht auf. Von ihrem Make-up ist kaum mehr etwas übrig, sodass mir die Altersfältchen um ihre Augen auffallen. Sie nimmt die Sonnenbrille vom Kopf und klappt sie mit einer Hand zusammen. Als sie sich zum Gehen umdreht, kommt mir ein Gedanke. Ein Gedanke, der mir wie Eiswasser den Rücken hinunterläuft. Mein Herz setzt einen Schlag aus.
»Marjory? Du hast gerade was von Dubai gesagt …«
Sie dreht sich um.
»Ist Rilla in Dubai das Gleiche passiert?«
Marjory runzelt die Stirn. »Hast du dich nie über die langen Ärmel gewundert?« Ihre Stimme ist leise, aber eindringlich. »Ja. Das ist ihr in Dubai passiert. Du musst mit ihr reden, Grace. Ich erfahre täglich mehr darüber, was diesen Frauen angetan wird. Das ist nicht schön, so viel ist sicher.« Sie seufzt und dreht sich wieder um, verspricht, gleich morgen früh anzurufen.
Dieser Tage ist das Café gerammelt voll, noch bevor die Kunden kommen. Das Lillian’s ist ein Bienenstock, ein Hexenzirkel, eine Schwesternschaft. Eine Gemeinschaft von Frauen, die sich alle in der kleinen, heißen Küche drängen, die arbeiten, lachen, reden und sich umeinander kümmern.
Nach ein paar Tagen und Nächten zieht Rilla zurück in ihre Wohnung, doch Jocelyn bleibt bei Pete und mir. Sie begleitet mich jeden Tag ins Lillian’s, sagt kaum ein Wort und weicht praktisch nicht vom Spülbecken in der Küche, sobald wir im Café sind. Ich sage ihr, dass sie nicht arbeiten muss, doch sie schüttelt nur den Kopf. Sie bewegt sich in einem anmutigen Rhythmus zwischen Theke und Spülbecken hin und her. Sie säubert das Geschirr langsam und zielstrebig, sogar die Griffe der Tassen, wischt behutsam die Wappen auf dem Boden der Untertassen sauber. Ich habe dieMacaronskaum von den Blechen genommen, da taucht sie die Backbleche auch schon in das heiße Seifenwasser. Gelegentlich summt sie vor sich hin. Sie hat eine gute Stimme, obwohl die Töne leise und gequält klingen.
Auch Gigi ist leiser geworden – das hätte ich mir nie träumen lassen. Sie ist da, bevor unsere Stammgäste an der Theke auf ihren Morgenkaffee warten oder ihren Kindern Muffins zustecken, weil sie zu sehr in Eile waren, um zu Hause zu frühstücken. Eigentlich hat sie noch Mutterschaftsurlaub, aber ich kann sie nicht davon abhalten. Wahrscheinlich ist sie lieber hier im Lillian’s als zu Hause. Sie wirkt noch immer etwas abwesend, ihre Haut hat die Farbe weißer Socken, die zu oft gewaschen worden sind; die Sommersprossen heben sich deutlich von den blassen Wangen ab. Eigentlich wirkt die ganze Gigi, als wäre sie zu oft gewaschen worden. Ihre Stimme ist gedämpft, ihre Energie erlahmt. Sie spricht mit mir über Macarons, das scheint alles zu sein, was sie interessiert. Ich nehme an, dass sie es noch einmal abwenden konnte, von ihrer Mutter vor die Tür gesetzt zu werden, obwohl sie sich auch darüber ausschweigt. Vielleicht weiß ihre Mutter auch gar nicht, dass sie tagsüber hier ist; es würde mich nicht wundern. Das Café und dieMacarons scheinen ihr gutzutun. Sie schreibt Ideen und Gedanken in ein Notizbuch, das sie in ihrer Handtasche bei sich trägt, ein kleines Lächeln huscht über ihr Gesicht, bevor sie es schnell wieder in der
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