Der Duft von Tee
Dann haben sie ihr gesagt, dass sie ihnen für dieses Privileg monatlich eine bestimmte Summe zahlen muss.«
Pete nickt, und ich sehe ihn an.
» Sie muss ihnen etwas zahlen?«, frage ich.
»Das ist nicht unüblich«, sagt er trocken.
»Das war aber nicht das wirklich große Problem.« Marjorys Stimme klingt bitter. »Das waren ihre Arbeitgeber, ein Ehepaar und ein älterer Vater. Sie haben ihr sofort ihren Pass abgenommen und sie hart arbeiten lassen. Sie haben ihr gesagt, sie sei zu langsam. Haben sie schlechter behandelt als einen räudigen Hund.« Sie schaudert. »Sie hat sich an die Personalvermittler gewandt, aber die wollten ihr nicht helfen. Für die ist sie nur ein Gehaltsscheck. Sie haben ihr geraten, den Mund zu halten und zu tun, was man ihr sagt. Und sie daran erinnert, dass eine Hausangestellte hier mehr verdient als ein Anwalt auf den Philippinen und dass sie härter arbeiten würde, wenn sie ihren Kindern zu Hause wirklich eine gute Mutter sein wollte.« Marjory lacht zynisch. »Härter arbeiten! Als wäre sie faul, als wäre es ihr Fehler …« Ihre Miene verhärtet sich. »Also ist Jocelyn abgehauen. Sie war seit der Nacht, als sie mit Rilla hier übernachtet hat, im Frauenhaus.«
Ich denke daran zurück, wie ich die beiden Mädchen vor Monaten im Lagerraum entdeckt habe. Pete sieht mich an, und ich schüttle den Kopf.
Marjory spricht weiter. »Niemand wusste, was mit ihr los war; sie hielten sie lediglich für ein wenig seltsam und sehr zurückhaltend. Vielleicht wollte es auch niemand wahrhaben. Aber Rilla hat es sofort gewusst, wegen dem, was ihr in Dubai passiert ist. Wahrscheinlich musste sie Jocelyn nur ins Gesicht sehen. Sie sind sehr enge Freundinnen geworden.«
»Ja, Jocelyn war hier, um Rilla zu treffen«, murmle ich. Ich erinnere mich, wie sie draußen vor dem Café auf Rilla gewartet hat, das lange Haar vor das Gesicht gezogen.
»Ich schätze, in Rilla hatte sie jemanden gefunden, dem sie vertrauen konnte. Doch als Jocelyn nicht mehr zu ihren Treffen aufgetaucht ist und Rilla keine Anrufe und keine SMS mehr bekommen hat, hatte sie wirklich Angst um sie. Sie hat mit den anderen Philippinern hier in Macao gesprochen, und alle haben ihr versprochen, nach Jocelyn Ausschau zu halten. Gott sei Dank ist das ein riesiges Netzwerk: Wachmänner, Leute, die in Banken und Geschäften arbeiten, Frauen in fast allen Wohnhäusern, die ständig mit dem Kinderwagen unterwegs sind, du weißt schon.
Schließlich hat sie jemand im San Miu gesehen, diesem chinesischen Supermarkt. Sie hatte sich eine Kappe tief in die Stirn gezogen, damit man ihr Gesicht nicht erkennen konnte, aber es war mit Sicherheit Jocelyn. Als Rilla davon erfuhr, hat sie sich natürlich gefreut, dass ihr nichts zugestoßen war, aber ich glaube, sie hat gewusst, dass sich die Lage immer mehr zuspitzte. Jedenfalls hat Rilla dann vor ein paar Monaten eine SMS bekommen, in der sie aufgefordert wurde, zum Parkplatz vor der Pferderennbahn zu kommen. Es war nicht Jocelyns Nummer; wie sich herausstellte, hat sie eins der Telefone ihres Arbeitgebers gestohlen, was man ihr nicht zum Vorwurf machen kann. Sie hatten ihr schließlich ihr Handy abgenommen und sie in diesem verdammten Haus eingesperrt.«
Marjory ahnt, was ich denke.
»Das war die Nacht, als du sie hier gefunden hast. Die Nacht, in der sie abgehauen ist.«
Meine Kehle ist trocken. »Was war passiert?«
Unsere Blicke begegnen sich, und sie schweigt einen Moment. »Man hat sie mit einer Bratpfanne geschlagen«, sagt sie grimmig.
Meine Kehle wird eng, und meine Augen brennen. Durch meine Tränen sehe ich, dass Pete den Kopf in die Hände gestützt hat.
»Oh, mein Gott«, sagt er.
»Das habe ich nicht gewusst«, verteidige ich mich mit verzerrter Stimme.
»Hey, hey …«, beruhigt mich Marjory. Sie beugt sich zu mir herüber und tätschelt mir den Arm. »Niemand von uns hat das gewusst, Grace. Als Rilla das erste Mal versucht hat, mich um Hilfe zu bitten, wollte ich nichts davon hören. Ich wollte da nicht mit hineingezogen werden. Ich war der Meinung, dass mich das nichts angeht …«
»Doch …«, sagt Pete langsam.
»Ja«, seufzt sie. »Ja, es geht uns etwas an. Diese Leute kommen hierher, um für uns zu arbeiten – für die Ausländer und die reichen Einheimischen. Doch niemand setzt sich für sie ein oder kümmert sich darum, dass so etwas nicht passiert. Oder Schlimmeres.« Sie sieht mich scharf an. »Grace, es war nicht dein Fehler. Wir haben es nicht gewusst,
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