Der Duft von Tee
Motor in einen höheren Gang geschaltet wird.
»Ist sie …?«, beginne ich.
Marjorys Stimme wird lauter. Im Hintergrund hupt ein Auto. »Ich erklär’s dir später. Sorry, aber wir müssen sie an einen sicheren Ort bringen. Sie will nicht mit mir kommen, aber sie vertraut Rilla. Ist es okay, wenn Rilla früher geht?«
»Ja, natürlich.«
»Gut. Grace, können wir mit Jocelyn ins Lillian’s kommen? Nur bis wir eine Bleibe für sie gefunden haben?«
Ich nicke. Dann wird mir klar, dass sie das nicht hören kann. Mein Herz rast.
»Grace?«
»Ja. Natürlich. Klar.«
»Danke. Bis gleich, okay?«
»Okay.«
Dann ist die Leitung tot. Ich starre Rilla an, die sich die Jacke anzieht und sich hastig zum Gehen fertig macht. Ich komme mir ein wenig verloren vor.
»Ist alles in Ordnung?«, frage ich. Rilla sieht mich nur mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an und schüttelt den Kopf, bevor sie auf die Toilette stürmt.
Wenige Minuten später hält Marjorys weißer SUV vor dem Café. Das Schild des Lillian’s spiegelt sich vor dem Hintergrund des verschwommenen orangen Sonnenuntergangs in den dunklen Fenstern des Wagens. Rilla rennt hinaus und klettert auf den Beifahrersitz, die Tasche in der einen Hand, die Schürze in der anderen. Sie reicht mir die Schürze mit zitternder Hand aus dem Auto. Ihr Gesicht ist blass und ernst. Als ich ihr die Schürze abnehme, sieht mich Marjory vom Fahrersitz aus an.
»Ich hoffe, es dauert nicht lange. Ich erkläre dir alles, wenn wir zurück sind, versprochen«, sagt sie und gibt Gas. Meine linke Hand hängt schlaff an der Seite, sie hält noch immer Rillas malvenfarbene Schürze umklammert. Eine kleine Windhose wirbelt Sand und Schmutz von der anderen Straßenseite auf. Mit leerer Miene beobachte ich, wie sie auf mich zutanzt und sich der Staub im Rinnstein sammelt. Ich greife in der Tasche nach meinem Handy und rufe Pete an. Ich bekomme kaum zwei Sätze heraus, da hat er sich schon auf den Weg gemacht. Ich setze mich auf die Bordsteinkante und warte.
Pete und ich sitzen im Café, als Marjory vorfährt. Die Sonne ist untergegangen und wird von einem Sichelmond abgelöst. Die Hintertür öffnet sich, und Rilla steigt aus, um Jocelyn aus dem Auto zu helfen. Jocelyn zuckt zusammen, als sie Pete sieht. Rilla legt den Arm um ihre Freundin und schiebt sie in die Küche. Eine kalte Brise weht durch den Raum, als Marjory eintritt. Ihr schönes Gesicht ist blass und verkniffen. Sie setzt sich mir gegenüber und greift nach meinen Händen.
»Oh, Grace.« Sie seufzt tief. »Danke. Danke, dass du bisher keine Fragen gestellt hast.«
»Schon okay«, murmele ich verwirrt.
»Wir hatten keine Zeit zu verlieren. Mir war nicht klar, wie schlimm es steht, verstehst du. Ich habe es nicht geglaubt. Oder nicht glauben wollen. Aber jetzt … jetzt weiß ich es.« Sie schüttelt den Kopf.
Als Pete uns Kaffee bringt, legt Marjory ihre schlanken Finger um die Tasse. Pete trägt eine Kanne mit heißem Wasser und Tassen in die Küche. Er bietet Rilla und Jocelyn Tee an, ihre Antworten kann ich nicht hören. Als er zurückkommt, setzt er sich neben Marjory und legt ihr einen Arm um die Schultern. Sie lehnt sich dankbar gegen ihn.
»Rilla hat mir gesagt, dass Jocelyn in Schwierigkeiten steckt, deshalb habe ich ihr von den Schwestern des Guten Hirten erzählt; sie betreiben ein Frauenhaus hier in Macao. Ich habe auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung davon gehört.«
»Die Schwestern des Guten Hirten?«, wiederhole ich.
»Das sind Nonnen, die Frauen helfen, die in Schwierigkeiten stecken. Ich war ein paarmal dort, seit Jocelyn eingezogen ist, aber sie war zu verängstigt, um mit mir zu reden. Als die Schwestern gehört haben, dass ihre Arbeitgeber möglicherweise wissen, wo sie ist, haben sie mich angerufen und um Hilfe gebeten. Sie müssen schließlich auch die anderen Frauen beschützen.« Sie legt die Hand auf die Stirn.
Pete sieht mich verständnislos an, doch ich bin genauso verwirrt wie er.
»Es tut mir leid«, sage ich, »aber ich verstehe rein gar nichts. In was für Schwierigkeiten steckt sie denn?«
Marjory sieht mich an, den Kopf zur Seite geneigt. »Hat Rilla dir nichts erzählt?«
Ich schüttele schuldbewusst den Kopf. »Nein. Wir haben nicht viel geredet.« Marjory holt tief Luft, um sich zu beruhigen. »Jocelyn ist nach Macao gekommen, um als Hausangestellte zu arbeiten. Diese Personalvermittler, wenn man sie denn so nennen will, haben ihr einen Job bei einer Familie hier vermittelt.
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