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Der Duft von Tee

Der Duft von Tee

Titel: Der Duft von Tee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Tunnicliffe
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ich Gänsehaut.
    »Mama, Mama, Mama, wo bist du, Mama?«, wiederholte ich in meinen Gedanken wie ein kleines Lied. Nach rechts oder nach links? Der Wind biss in meine Ohren und pfiff um meine Beine. Mein Herz raste. Ich ging nach links. Niemand war zu sehen. Die Straße war so ruhig wie eine Kirche und noch ganz glitschig vom Regen, der am Nachmittag gefallen war.
    Nicht weit entfernt hörte ich laute Musik, die aus einem dunklen Café kam. Eine Trompete! Bah bah baaaahhhh, spielte sie. In der Nähe der Tür war es angenehm warm, ein paar Leute standen davor und lachten. Ich trat näher und rieb die Hände gegeneinander. Sie rauchten lange, dünne Zigaretten und unterhielten sich über meinen Kopf hinweg. Ich stand am Fenster und hörte dem Schmachten meines Lieblingsinstruments zu. Es war so kraftvoll und schön zugleich. In der Musikstunde hatte ich einmal versucht, es zu spielen, aber das hatte überhaupt nicht so geklungen wie diese stolzen, reinen Noten, die aus der goldenen Röhre strömten. Ich hatte nur Geräusche zustande gebracht, die wie Fürze klangen – laut, grob und kurz. Während ich der Trompete zuhörte, war mir plötzlich sehr kalt. Ich drückte mich gegen das Fenster und kämpfte gegen die Tränen der Einsamkeit an. Hätte ich ein Gebet gekannt, ich hätte es in diesem Augenblick aufgesagt. Stattdessen kamen nur zwei Worte über meine Lippen. Bitte, Mama.
    Dann, als würde Wünschen wirklich helfen, sah ich dich durch das Glas verzerrt in deinem pfirsichfarbenen Seidenkleid vor der Bühne tanzen. Deine Wangen waren rot, und deine Haut glänzte.
    »Mama, Mama, Mama! Ich bin’s, Gracie!«, rief ich dir zu. Ich war mir sicher, dass du mich gleich bemerken würdest.
    Die Leute blickten mich jetzt durch den Rauch ihrer Zigaretten an. Eine Frau beugte sich zu mir vor. Sie trug eine rote Jacke und hohe schwarze Schuhe und sagte etwas, aber ich verstand kein Französisch. Ich hatte das Gefühl, auf dem Grund eines Brunnens zu sitzen. Sie versuchte, meinen Arm von dem Fenster fortzuziehen, mich zu sich herumzudrehen, aber ich riss mich los und fing an zu rennen. Zurück zum Hotel, die Angst rauschte mit dem Blut durch meinen Körper. Ich weinte, als ich durch die verstaubte Lobby stürzte, meine Stiefel hallten auf der Treppe. Ich knallte die Tür hinter mir zu und schloss von innen ab. Ich lehnte mich eine Weile dagegen, wie gelähmt, mit bebender Brust. Dann kroch ich mit Stiefeln und Mantel ins Bett und zog mir die Decke bis über den Kopf. Die kalten Hände zwischen die Knie gesteckt, um sie zu wärmen, schlief ich ein.
    Ich weiß nicht, wann du nach Hause gekommen bist. Als ich am späten Morgen aufgewacht bin, lag mein Mantel zusammengefaltet auf meinen Stiefeln auf dem Boden, und du hast am Fenster gesessen und mit den Fingern auf die Fensterbank geklopft. Bis auf ein paar Klumpen Mascara unter deinem rechten Auge hattest du dir das Make-up abgewaschen. Dein nasses Haar war unter einem Handtuch zusammengedreht, und du hast einen Morgenrock getragen, aus dem unten deine rot lackierten Zehennägel heraussahen. Auf deinem Schoß lag eine kleine weiße Patisserieschachtel, die mit einem Band verschnürt war, und du hast nach Zucker gerochen.
    »Oh, schön, dass du wach bist. Heute müssen wir unbedingt in den Zoo gehen, Gracie. Ich weiß nicht, wie lange es her ist, dass wir uns zum letzten Mal die Tiere angesehen haben. Erinnerst du dich?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Es ist richtiges Eisbärwetter, findest du nicht?« Du bist auf das Bett gesprungen und mir dabei auf den Fuß getreten. Du hast mich gekitzelt und mit mir geschmust, während ich mir auf die Lippen gebissen habe. Vielleicht hatte ich alles ja nur geträumt.
    »Du hast mich allein gelassen …«
    »O nein, Süße.«
    »Doch, du hast mich allein gelassen. Gestern Abend.« Ich weinte die gleichen heißen Tränen wie am Abend zuvor, als hätten sie hinter meinen Augen nur auf diese Gelegenheit gewartet.
    »Schh, schh, schhh … hallo, jetzt wird nicht geweint«, hast du gesagt. »Da, nimm. Das hilft. Großes Ehrenwort.« Mit einem Zwinkern hast du mir die Schachtel gereicht. Darin war das schönste Gebäck, das ich je gesehen hatte, kreisrund. Ein Macaron, hast du gesagt.
    Wir sind an diesem Tag in den Zoo gegangen, Mama, weißt du noch? Wir sind so lange draußen geblieben, bis die Sonne untergegangen ist und ich mich erkältet habe. Wir haben nie über die Bar gesprochen. Die Jazzbar, in der sie die Musik aus Porgy und Bess gespielt

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