Der Duft
fiel ihr ein, dass sie in der Aufregung ihre mit unechten Edelsteinen besetzte vergoldete Brosche nicht
abgelegt hatte.
Sie steckte sie in ihre Handtasche und ging noch einmal durch den Metalldetektor, der diesmal stumm blieb. Sie griff ihre
Tasche und eilte aus dem Raum, ehe die Sicherheitsleute es sich anders überlegten.
Erst, als sie den vertrauten Empfangsbereich erreichte, wurde ihr bewusst, was sie getan hatte. Sie hatte das Flakon durch
die Sicherheitskontrolle geschmuggelt! Sie hatte ihrer Landsleute Vertrauen missbraucht. Schlimmer noch, sie setzte die Sicherheit
ihrer Gäste aufs Spiel. Es war das Schlimmste, was eine Hotelmitarbeiterin tun konnte.
Ihre Hände zitterten, sie kämpfte mit den Tränen. Jack Tobin, der Concierge und einer der wenigen CIA-Mitarbeiter in ihrem
Team, die wenigstens ein bisschen natürliche Freundlichkeit besaßen, warf ihr einen sorgenvollen Blick zu. »Aufgeregt?«
Sie nickte. Sprechen konnte sie nicht.
»Ich auch. Ist ja auch klar. Präsident Zinger kommt gegen Mittag an. Der russische Präsident ist schon da, und die meisten
Emire und Sultane sind schon gestern angereist. |332| Ich bin vor allem auf den neuen UN-Generalsekretär gespannt, mit diesem unaussprechlichen Namen.«
»Ich glaube, ich mache mir erst mal einen Tee«, sagte Nancy. Sie ging in die kleine Pantry fürs Personal. Hier war sie wenigstens
einen Moment lang allein.
Sie öffnete ihre Handtasche, holte das Flakon hervor und starrte es an wie eine Handgranate ohne Sicherungsstift. Wenn Sie
sich Jack jetzt offenbarte, war es möglicherweise noch nicht zu spät. Vielleicht konnte die CIA irgendwie so tun, als hätte
Nancy den Auftrag erfüllt, um ihre Familie nicht zu gefährden. Vielleicht würden sie sie rechtzeitig finden, bevor dieser
Ondomar ihnen etwas antun konnte. Vielleicht …
»Oh, das ist ja Allure von Chanel!«
Nancy fuhr erschrocken herum. Vor ihr stand Jane Tanner, ebenfalls vom CIA. Im Unterschied zu Jack besaß sie nicht das geringste
bisschen Feingefühl. Zudem war sie pummelig und wirkte immer irgendwie ungepflegt. Sie hätte nicht einmal das erste Einstellungsgespräch
vor der Personalleitung des Hotels überstanden.
Jane streckte die Hand aus. »Darf ich mal probieren?«
Nancy steckte das Flakon schnell in ihre Handtasche. »Nein«, sagte sie, heftiger als beabsichtigt.
Jane machte ein enttäuschtes Gesicht. »Ich wollte doch nur mal dran riechen!«
Nancy versuchte ein schiefes Lächeln. »Tut mir leid, aber das ist ein Geschenk meines Mannes. Es bedeutet mir sehr viel.«
»Schon gut. Verstehe.« Jane zog eine Schnute und schob sich an Nancy vorbei, um sich einen Kaffee zu machen. Wahrscheinlich
der dritte heute Morgen. Sie trank viel zu viel Kaffee, und dann schwitzte sie und wirkte noch ungepflegter, aber alle bisherigen
Versuche Nancys, sie mehr |333| oder weniger sanft auf diesen Zusammenhang hinzuweisen, waren erfolglos geblieben.
Es wurde der längste Tag in Nancy Singhs Leben. Sie stand am Empfang, begrüßte die Staatsoberhäupter, die nach und nach eintrafen,
begleitet vom permanenten Dröhnen der ankommenden und wieder abhebenden Helikopter, und fühlte sich, als würde sie jeden Moment
innerlich zerreißen. Ihr Gesicht schmerzte vom permanenten Lächeln, und sie war sicher, dass ihre Verzweiflung auf hundert
Meter Entfernung sichtbar sein musste. Doch keiner der hohen Gäste schien es zu bemerken. Sie war schließlich nur eine einfache
Hotelkraft, eine Statistin, ungefähr so bedeutend wie das große Blumengesteck neben den Fahrstühlen.
Die ganze Zeit überlegte sie, ob sie sich der CIA anvertrauen sollte. Höchstwahrscheinlich war ihre Familie ohnehin verloren.
Sie dachte an die mutigen Passagiere des United-Airlines-Fluges 93 nach Washington, die angesichts ihres sicheren Todes am
11. September 2001 ihre Entführer überwältigt und so eine noch größere Katastrophe verhindert hatten.
Doch immer, wenn sie kurz davor war, Jack anzusprechen, drängte sich ihr das Bild von Timmy auf, wie er die fünf Kerzen auf
seinem Geburtstagskuchen ausblies und stolz lächelte, weil er es in einem Zug geschafft hatte. Sie brachte es einfach nicht
fertig, die Chance, dass er seinen sechsten Geburtstag noch erlebte, wegzuwerfen – und sei sie auch noch so gering. Merkwürdigerweise
hatte sie das starke Gefühl, Nariv Ondomars Aussage trauen zu können. Er würde sein Versprechen wahr machen und ihre Familie
freilassen, wenn sie
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