Der Duft
vertrieb die Kälte aus Maries Gliedern. Im Licht des Mondes war ihr Ziel gut zu erkennen.
Zwar konnten sie die Rauchsäule nicht mehr sehen, aber Marie hatte sich die Form des Hügels gemerkt, hinter dem sie aufgestiegen
war. Wie in der vorigen Nacht wurde ihr Marsch vom unaufhörlichen Zirpen der Zikaden und dem gelegentlichen Schrei eines Tieres
begleitet, der vom ewigen Kreislauf von Leben und Tod kündete. Sie kamen an seltsamen, spitz zulaufenden Gebilden vorbei,
die aussahen wie die Turmspitzen einer im Sand versunkenen gotischen Kathedrale – Termitenhügel.
Nach etwa drei Stunden Fußmarsch, als sich der Mond bereits wieder dem Horizont zuneigte, hörten sie in der Ferne ein seltsames
Geräusch. Es klang wie ein heiseres Lachen.
»Hyänen«, flüsterte Rafael.
Maries Puls beschleunigte sich. Sie wusste aus einer Fernsehsendung, dass Hyänen zu den gefährlichsten Jägern der afrikanischen
Steppe gehörten. Lange Zeit waren sie als feige Aasfresser verschrien gewesen, doch neuere Beobachtungen hatten gezeigt, dass
Tüpfelhyänen geschickte Jäger waren, die es selbst mit den stärksten Tieren aufnahmen. Es waren eher die Löwen, die ihnen
später die Beute streitig machten, anstatt selbst zu jagen.
Erneut erklang das grausige Lachen – nach Maries Gefühl war es bereits näher als vorhin. Sie beschleunigten ihre Schritte,
bis sie in einen leichten Trott verfielen.
|252| Rafael deutete auf eine kleine Gruppe von niedrigen Bäumen in ein paar Hundert Metern Entfernung, die sich düster gegen den
Sternenhimmel abzeichneten. »Wenn wir es dorthin schaffen, können wir auf einen der Bäume klettern.«
Marie nickte. Doch während sie sich dem rettenden Wäldchen näherten, erklang wieder das höhnische Lachen – und diesmal schien
es vor ihnen zu sein. Marie blieb stehen. Sie spähte in die Dunkelheit.
»Was ist?«, flüsterte Rafael.
Sie deutete auf die Akaziengruppe. »Ich glaub, die sind genau dort, unter den Bäumen!«
In diesem Moment sahen sie einen gedrungenen Körper in die Luft springen. Er schien nach etwas zu schnappen, das sich oben
in die Krone der niedrigen Akazie geflüchtet hatte. Was immer es war, es hatte wohl kaum eine Überlebenschance. Die Hyänen
konnten zwar nicht klettern, aber überraschend gut springen, und der Zweig war eindeutig zu niedrig.
Sie wollte sich gerade abwenden – sie mussten versuchen, sich aus dem Staub zu machen, solange die Hyänen mit ihrer Beute
beschäftigt waren –, als sie etwas hörte, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ: einen menschlichen Schrei – den angstvollen
Schrei eines Kindes.
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|253| 30.
Peko schrie vor Angst. Verzweifelt kletterte er höher in die Krone der Akazie, die scharfen Dornen ignorierend, die seine
Hände aufschlitzten. Doch die dünnen Äste ächzten bereits bedrohlich unter seinem Gewicht. Wenn er abstürzte, war er verloren.
Erneut setzte eine der Hyänen zum Sprung an. Ihr Maul war aufgerissen, und er konnte ihren stinkenden Atem riechen, als der
Kopf durch die Äste unter ihm brach. Er konnte gerade noch den Fuß hochziehen. Die starken Kiefer der Hyäne, die den Oberschenkelknochen
eines Büffels zermalmen konnten, schlugen aufeinander, und das Tier plumpste zurück auf den Boden. Das hässliche Lachen ertönte,
mit dem die Hyänen ihre Opfer verspotteten. Peko wusste, dass sie über seine Feigheit lachten, darüber, dass er hier in der
Baumkrone saß, statt sich von ihnen fressen zu lassen, wie er es den Göttern versprochen hatte.
Er war bis zum Abend in den Trümmern des Dorfes herumgeirrt und hatte gebetet. Doch sein Flehen war nicht erhört worden. Keiner
der Dorfbewohner war zurückgekehrt. Und so hatte er sich endlich dem Willen Götter gebeugt und war in die Wildnis gezogen,
um sich als Opfer darzubieten. Doch als er dann das Lachen der Hyänen vernommen hatte, war er von Panik ergriffen worden.
Er war gerannt, um sein Leben gerannt, bis er sich auf diesen Baum hatte flüchten können. Und nun brachte er einfach nicht
den Mut auf, herabzusteigen, um sich seinem Schicksal zu ergeben.
Er wünschte, er könnte zum Geist der Hyänen sprechen wie Kunu. Er hätte sich wenigstens für seine Feigheit entschuldigt. |254| So aber konnten ihn die Götter nicht hören – sie würden seine Familie für diese Feigheit strafen. In seiner Verzweiflung blieb
ihm nur noch der Gott der Deutschen. Zumindest wie man zu ihm sprach, hatte er gelernt. »Vater
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