Der Duft
und
ihr Geschick würden darüber entscheiden, ob sie überlebten. Sie war an der Grenze dessen angekommen, was Menschen leisten
konnten. Doch sie hatte sich lange nicht mehr so frei gefühlt.
Als die Abenddämmerung einsetzte, weckte sie Rafael und den Jungen. Rasch zogen sie sich an und setzten ihren Marsch fort.
Maries Füße taten ihr weh, ihre Lippen waren aufgesprungen, und es juckte sie am ganzen Körper. Doch ein Blick auf Peko reichte,
um ihr die Kraft zu geben, die sie brauchte. Sie würden dieses Kind zu seinen Eltern zurückbringen.
Plötzlich durchzuckte sie ein Gedanke: All ihre Erfolge als Unternehmensberaterin, all die Millionen, die sie für ihre Auftraggeber
eingespart oder hinzuverdient hatte, waren nichts gegen diese eine Tat – einem Kind das Leben zu retten. Ihr ganzes bisheriges
Dasein erschien ihr plötzlich bedeutungslos, geradezu lächerlich: die verlogene Freundlichkeit, die albernen Powerpointcharts,
die wichtigen Mienen der Lenkungsausschussmitglieder. Die Leute, die in diesen Runden saßen, waren nicht mehr als Sklaven
des Aktienkurses, gehetzt und getrieben von Quartalsberichten und Aufsichtsratssitzungen. Sie konnten einem leidtun.
Als der Morgen graute, ragte direkt vor ihnen der Hügel auf, hinter dem das Dorf liegen musste. Von der Rauchsäule war nichts
mehr zu sehen, aber das hatte sicher nichts zu bedeuten. Seltsam war nur, dass Peko immer langsamer ging und immer verstörter
wirkte. Als habe er Angst davor, nach Hause zurückzukehren.
Marie lächelte ihm zu und berührte ihn an der Schulter. |260| Er schmiegte sich an ihre Hüfte, und ihr Herz verkrampfte sich.
Sie erreichten eine schmale Straße, nicht viel mehr als zwei parallele Spuren im Sand, die um den Hügel führten. Mit frischem
Mut erfüllt, folgten sie ihnen. Erst, als sie eine Weile gegangen waren, fiel Marie auf, wie still es war. Keine Stimmen waren
zu hören, kein Kindergeschrei, nicht mal das Geräusch eines Motors. Vielleicht schliefen die Dorfbewohner noch.
Sie umrundeten den Hügel und erreichten die Ausläufer der Siedlung. Marie blieb stehen, als sei sie gegen eine unsichtbare
Wand gelaufen.
»O Gott!«, rief Rafael.
Peko begann zu schluchzen.
Das Dorf war nur noch eine Ansammlung von Ruinen. Ein Tier, das einem Fuchs ähnelte, fraß an der Leiche einer Frau, die neben
den verkohlten Resten einer Hütte lag. Rafael verscheuchte es mit einem Steinwurf. Auf einer anderen Leiche saßen zwei Geier.
Sie hüpften ein paar Schritte zur Seite, als die drei sich näherten, doch kaum waren sie vorbei, ließen sich die Tiere wieder
auf ihrer Beute nieder. Überall summten Fliegen – Tausende Fliegen.
Mit versteinerten Mienen gingen sie durch das Dorf. Weder Rafael noch Marie konnten irgendetwas sagen.
Peko betrat eine der wenigen unversehrten Hütten und kam kurz darauf mit einem Wasserkanister und etwas, das wie Fladenbrot
aussah, zurück. Bis zu diesem Moment hatte Marie ihren Durst beinahe vergessen. Jetzt aber riss sie ihm den Kanister fast
aus der Hand und goss das warme, abgestandene köstliche Nass in sich hinein, bis sie nicht mehr konnte. Dann reichte sie ihn
etwas verlegen an Rafael weiter.
Peko deutete auf die Hütte. »Mama, Papa not here«, sagte er. »Ollo not here.«
|261| Marie glaubte zunächst, er sei traurig, weil er seine Eltern verloren hatte, doch dann begriff sie: Pekos Mutter und Vater
waren nicht unter den Toten. Vielleicht waren auch sie in die Savanne geflüchtet, so wie der Junge, und dort irgendwie getrennt
worden. Sie deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Mama there? Run away?«
Peko schüttelte den Kopf. Er redete schnell in einem Kauderwelsch aus Englisch und seiner Muttersprache. Es war offensichtlich,
dass er ihnen erzählte, wie er aus dem Dorf geflohen war, aber Marie verstand kaum ein Wort. Immerhin konnte sie sich zusammenreimen,
dass er seine Eltern irgendwie verloren hatte, bevor die Katastrophe über das Dorf hereingebrochen war. Er erzählte irgendetwas
von wütenden Göttern. An seinem Gesichtsausdruck glaubte sie zu erkennen, dass er sich aus irgendeinem Grund für den Vorfall
verantwortlich fühlte.
Sie nahm ihn in den Arm und strich ihm durch das krause Haar. »Peko, was immer du angestellt hast, es war nicht deine Schuld,
was hier passiert ist. Das waren böse Männer.«
Er sah zu ihr auf. Auch, wenn er nicht verstand, was sie sagte, schienen ihre Worte ihn zu trösten.
»Meinst du, das
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