Der Duft
Potenzial.«
»Und du meinst, das funktioniert auch bei Menschen?« Marie dachte daran, was Scorpa ihr bei ihrem ersten Treffen gesagt hatte:
Die meisten Menschen haben leider vergessen, wie wichtig der Geruchssinn für unser Leben ist … |243| Gerüche beeinflussen uns stärker, als wir wahrhaben wollen …
Rafael zuckte mit den Schultern. »Hast du mal ›Das Parfüm‹ von Patrick Süskind gelesen?«
»Nein, warum?«
»Ist ja auch egal. Jedenfalls ist es vermutlich so, dass dieses Zeug irgendwie den menschlichen Geruchssinn nutzt. Und die
Leute verlieren dann den Verstand …« Er hielt inne, überlegte einen Moment, als sei ihm etwas eingefallen. »Du hast diesen
Duft schon mal gerochen? Im Teamraum?«
»Ja. Das war, als Konstantin durchgedreht ist und Rico niedergeschlagen hat. Am Tag zuvor hatten wir ein Interview mit Borg.
Rico hat ihn ziemlich in die Enge getrieben. Und dann war da ein mysteriöser Umschlag. Borg muss ein Blatt Papier mit dem
Duftstoff getränkt und ihn im Teamraum deponiert haben. Rico hat den Umschlag geöffnet, und sie sind aufeinander losgegangen.«
Tränen der Wut schossen ihr in die Augen. »Dieses Schwein! Er hat Konstantin manipuliert!«
»Du hast beide Male diesen Geruch wahrgenommen. Und du bist nicht durchgedreht. Also wirkt das Zeug offenbar nur bei Männern.
Ein Indiz mehr, dass es sich um ein Pheromon handelt. Die beeinflussen oft nur eines der Geschlechter. Fragt sich nur, was
wir jetzt mit unserem Wissen anstellen.«
»Wir müssen jemanden warnen. Am besten die deutschen Behörden. Wir müssen uns irgendwie zu einer deutschen Botschaft durchschlagen.«
Rafael verzog das Gesicht. »Wir wissen ja nicht mal, in welchem Land wir uns befinden!«
»Hast du eine bessere Idee?«
»Nein. Na schön, am besten gehen wir nachts und ruhen uns tagsüber aus. Ich habe zwar keine Ahnung, in welche |244| Richtung wir müssen, aber wenn wir immer geradeaus gehen, haben wir eine gute Chance, irgendwann auf eine Straße zu treffen.«
»Meinst du nicht, die Straßen sind zu gefährlich? Sie werden damit rechnen, dass wir versuchen, den nächsten Ort zu erreichen.«
»Ich will dich ja nicht beunruhigen«, sagte Rafael. Sein schiefes Grinsen war im Sternenlicht nur schwach zu erkennen. »Aber
ich fürchte, die Gegend, durch die wir gerade laufen, ist auch nicht ganz ungefährlich.«
Ein fernes, bellendes Geräusch unterstrich seine Worte. Ein Schauer durchfuhr Marie.
Sie liefen die ganze Nacht durch, begleitet vom immerwährenden Sirren der Insekten und dem gelegentlichen Brüllen oder Bellen
eines nächtlichen Jägers. Einmal hörten sie einen schrecklichen Todesschrei, als ein Raubtier sich sein Opfer holte. Doch
sie blieben unbehelligt.
Als der Morgen graute, erreichten sie einen felsigen Hügel, der aus der Savanne aufragte wie der Rücken eines urzeitlichen
Riesentiers. Sie beschlossen, von seinem Gipfel aus die Gegend zu erkunden und dann in einem Gebüsch Schutz zu suchen.
Von oben übersah man eine weite, grasbedeckte Ebene. Es gab nur wenige, niedrigwüchsige Bäume. In der Ferne graste eine Herde
dunkler Tiere, vielleicht Gnus. Dazwischen waren die gestreiften Körper von Zebras zu erkennen. Ein Rudel Gazellen hatte sich
in der Nähe eines einzelnen Baumes gruppiert, der einen absurd dicken Stamm hatte und ein wenig aussah wie eine riesige, halb
in den Boden gerammte Karotte. Ein einsamer großer Vogel, ein Adler vielleicht, zog träge seine Kreise am rosa Morgenhimmel.
Die Szene wirkte friedlich, geradezu paradiesisch, wie aus einem dieser Afrikafilme im Fernsehen. Vielleicht |245| waren sie in einem Nationalpark oder so. Jedenfalls war keine Spur menschlicher Besiedlung zu erkennen.
Oder doch? Marie kniff die Augen zusammen. Nein, sie täuschte sich nicht. »Dort«, rief sie und deutete in Richtung einer Hügelkette
jenseits der Ebene.
»Was soll da sein?«
»Eine Rauchsäule, glaube ich.«
»Wo? Ich sehe nichts.«
»Da drüben. Siehst du den Hügel mit dem steil abfallenden Hang rechts? Ein kleines Stück links davon.«
Rafael brauchte eine Weile, bis er die Stelle fand. »Tatsächlich! Jetzt sehe ich es auch. Mann, du hast verdammt scharfe Augen.«
»Meinst du, wir schaffen es bis da hin?«
»Weiß nicht. Das sind bestimmt zwei, drei Tagesmärsche. Wir haben kaum etwas zu trinken und nichts zu essen. Wird nicht einfach.
Aber wir müssen es versuchen.«
»Dann lass uns gehen.«
Sie kletterten den Hügel auf der anderen
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