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Der dunkle Fluss

Der dunkle Fluss

Titel: Der dunkle Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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habe?«
    »Das ist eine seiner Lieblingsgeschichten. Er sagt, ihr beide hättet da draußen im Wald eine Übereinkunft getroffen. Ein wortloses Einverständnis, nennt er es. Eine Verpflichtung an das Leben im Schatten des Todes oder so ähnlich. Verdammt poetisch, fand ich immer.«
    Ich dachte an das Foto, das mein Vater in seinem Arbeitszimmer aufbewahrte und das an dem Tag entstanden war, als wir den weißen Hirsch gesehen hatten. Es war in der Zufahrt aufgenommen worden, nach dem langen, wortlosen Rückweg aus dem tiefen Wald. Mein Vater glaubte, es sei ein neuer Anfang. Ich bemühte mich nur, nicht zu weinen.
    »Er irrte sich, weißt du. Es gab keine Übereinkunft.«
    »Wie meinst du das?«
    »Ich wollte diesen Hirsch töten.«
    »Ich verstehe nicht.«
    Ich sah Dolf an und empfand das gleiche überwältigende Gefühl wie zuvor im Wald. Trost. Schmerz. »Mein Vater sagte, dieser Hirsch sei ein Zeichen. Er meinte, es sei ein Zeichen von ihr.«
    »Adam —«
    »Deshalb wollte ich ihn verletzen.« Ich quetschte meine Hände, bis die Knochen sich schmerzhaft aneinanderrieben. »Deshalb wollte ich ihn töten. Ich war zornig. Ich war wütend.«
    »Aber warum?«
    »Weil ich wusste, dass es vorbei war.«
    »Was war vorbei?«
    Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. »Alles, was gut war.«
    Dolf sagte nichts, aber das verstand ich. Was hätte er auch sagen sollen? Sie hatte mich verlassen, und ich wusste nicht mal, warum. »Ich habe heute Morgen einen Hirsch gesehen«, sagte ich. »Einen weißen.« Dolf setzte sich ans andere Ende des Tisches. »Und du meinst, es könnte derselbe gewesen sein?« Ich zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Vielleicht. Von dem ersten hab ich immer geträumt.«
    »Möchtest du, dass es derselbe war?«
    Ich antwortete nicht direkt. »Vor ein paar Jahren habe ich nachgelesen, was man über weiße Hirsche weiß. Über die Mythologie des weißen Hirsches. Es gibt da einiges, das tausend Jahre zurückreicht. Sie sind sehr selten.«
    »Was ist das für eine Mythologie?«
    »Die Christen erzählen von einem weißen Hirsch, der die Erscheinung Christi zwischen den Geweihgabeln trug. Sie halten es für ein Zeichen der bevorstehenden Erlösung.«
    »Das klingt nett.«
    »Andere Legenden reichen sehr viel weiter zurück. Die alten Kelten glaubten etwas ganz anderes. In ihren Legenden gibt es einen weißen Hirsch, der die Wanderer tief in die geheimsten Tiefen eines Waldes führte. Sie sagen, der weiße Hirsch könne den Menschen zu einer neuen Erkenntnis führen.«
    »Ist auch nicht schlecht.«
    Ich hob den Kopf. »Sie sagen, er sei ein Bote aus dem Reich der Toten.«

ELF
    W ir aßen schweigend. Dolf ging, und ich machte mich frisch. Im Spiegel sah ich hager aus, und meine Augen wirkten älter als der Rest. Ich zog Jeans und ein Leinenhemd an, und als ich aus dem Haus trat, saß Robin auf dem Picknicktisch, auf dem Vergaserteile lagen. Sie stand auf, als sie mich sah. Ich blieb auf der Veranda stehen.
    »Niemand hat sich gemeldet, als ich geklopft habe«, sagte sie. »Ich habe Wasser laufen hören, und da habe ich gewartet.«
    »Was willst du hier?«
    »Ich wollte mich entschuldigen.«
    »Wenn es wegen vorhin ist —«
    »Ist es nicht.«
    »Was ist es dann?«
    Ein Schatten zog über ihr Gesicht. »Es ist Granthams Fall.« Sie senkte den Blick und zog die Schultern vor. »Aber das ist keine Entschuldigung. Ich hätte es nicht so weit kommen lassen dürfen.«
    »Wovon redest du?«
    »Wenn es in der Stadt passiert wäre oder irgendwo unter vielen Leuten, hätte er es wahrscheinlich nicht für nötig gehalten —«
    »Robin.«
    Sie richtete sich auf, als wolle sie ihre Strafe entgegennehmen. »Sie wurde nicht vergewaltigt.« Ich war sprachlos. »Sie wurde überfallen, aber nicht vergewaltigt. Grantham wollte diese Information zurückhalten, bis er gesehen hatte, wie ihr alle reagiert.«
    Nicht vergewaltigt.
    Meine Stimme kratzte. »Wie wer reagiert?«
    »Du. Jamie. Dein Vater. Alle Männer, die als Täter in Frage kommen. Er hat dich beobachtet.«
    »Warum?«
    »Weil sexuelle Attacken nicht immer mit einer Vergewaltigung enden, weil die Opfer nicht immer so beliebig sind, wie die Leute glauben, und weil es da passiert ist, wo es passiert ist. Die Chancen einer Zufallsbegegnung hier draußen sind sehr gering.«
    »Und weil er glaubt, ich sei dazu fähig.«
    »Die meisten Leute sind schlechte Lügner. Wenn du gewusst hättest, dass keine Vergewaltigung stattgefunden hat, hätte man es dir vielleicht

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