Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der dunkle Fluss

Der dunkle Fluss

Titel: Der dunkle Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
Vom Netzwerk:
nicht ansehen können, und als der Staatsanwalt die vergrößerten Autopsiefotos auf eine Staffelei stellte, damit die Geschworenen sie sehen konnten, war sie aus dem Gerichtssaal geflüchtet. Die Wunde war in leuchtenden Farben zu sehen; die Bilder waren unter hellen Scheinwerfern mit einer hochauflösenden Kamera aufgenommen worden. Das erste Foto, einen Meter hoch, zeigte mit Blut und Erde verklebte Haare mit Knochensplittern und wächsern erstarrter Hirnmasse. Er hatte es so aufgestellt, dass die Jury es gut sehen konnte, aber Miriam saß in der ersten Reihe, keine zwei Schritte entfernt. Sie hatte sich die Hand vor den Mund gepresst und war durch den Mittelgang hinausgelaufen. Ich hatte mir immer vorgestellt, wie sie sich draußen auf dem Rasen übergab. Ich hätte es auch gern getan. Sogar mein Vater hatte wegschauen müssen, aber für sie musste es unerträglich gewesen sein. Sie hatten einander seit Jahren gekannt.
    »Es ist okay«, beharrte ich.
    Sie nickte, doch es sah aus, als sei sie den Tränen nahe. »Wie lange willst du hierbleiben?«
    »Das weiß ich noch nicht.« Sie versank tiefer in ihre weite Kleidung und lehnte sich an den Türrahmen. Noch immer hatte sie mir nicht in die Augen gesehen. -Mir ist das unheimlich«, sagte sie.
    »Das muss es nicht sein.«
    Aber sie schüttelte schon den Kopf. »Es ist einfach so.«
    »Miriam —«
    »Ich muss gehen.« Dann war sie weg, und ihre Schritte waren ein Wispern auf den blanken Dielen im Korridor. In der Stille hörte ich Stimmen von oben, einen Streit, und meine Stiefmutter wurde lauter. Als mein Vater zurückkam, hatte sein Gesicht sich verhärtet. »Was wollte Janice?«, fragte ich, aber ich kannte die Antwort schon.
    »Sie wollte wissen, ob du heute Abend mit uns isst.«
    »Lüg mich nicht an.« Er blickte auf. »Du hast uns gehört?«
    »Sie will mich aus dem Haus haben.«
    »Das alles ist nicht leicht für deine Stiefmutter.«
    Ich hatte Mühe, höflich zu bleiben. »Ich möchte ihr nicht zur Last fallen.«
    »Das ist doch Blödsinn«, sagte er. »Lass uns rausgehen.«
    Er ging hinüber zum anderen Ende seines Zimmers, zu der Tür, die von dort nach draußen führte. Seine Hand legte sich auf eins der Gewehre, die in der Ecke standen, und die Morgensonne flutete ins Zimmer, als er die Tür öffnete. Ich folgte ihm hinaus.
    Sein Pick-up parkte fünf Schritte hinter dem Haus. Er hängte das Gewehr in die Halterung in der Kabine. »Für die verdammten Hunde«, sagte er. »Steig ein.«
    Der Truck war alt und roch nach Staub und Stroh. Mein Vater fuhr langsam und lenkte den Wagen flussaufwärts. Es ging durch Mais- und Sojafelder, durch eine neu angelegte Weihrauchkieferplantage und dann in den Wald hinein. Erst jetzt sprach er wieder.
    »Hattest du Gelegenheit, mit Miriam zu reden?«
    »Sie wollte eigentlich nicht reden.« Mein Vater wedelte mit der Hand und verzog verärgert das Gesicht. »Sie ist überspannt.«
    »Es war mehr als das.« Ich spürte seinen Blick, während ich starr geradeaus schaute. Er drehte sich zu mir um, und als er antwortete, sprach er von dem toten Jungen.
    »Er war ihr Freund, Adam.«
    Ich fuhr aus der Haut. Ich konnte nicht anders. »Glaubst du, das weiß ich nicht? Glaubst du, daran erinnere ich mich nicht?«
    »Es wird sich alles regeln«, sagte er lahm. »Und was ist mit dir?«, fragte ich. »Ein kurzes Schulterklopfen bringt nichts in Ordnung.«
    Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Auf einer Anhöhe mit Blick auf das Haus hielt er an und stellte den Motor ab. Es war still.
    »Ich habe getan, was ich tun zu müssen glaubte, Junge. Niemand konnte nach vorn schauen und sein Leben weiterleben, solange du im Haus warst. Janice war verstört. Jamie und Miriam waren bedrückt. Ich war es auch. Es gab einfach zu viele Fragen.«
    »Aber ich kann dir keine Antworten geben, die ich nicht habe. Jemand hat ihn umgebracht. Ich habe dir gesagt, dass ich es nicht war. Das hätte genügen müssen.«
    »Es hat nicht genügt. Dein Freispruch hat nicht widerlegt, was Janice gesehen hatte.« Ich drehte mich um und sah ihn forschend an. »Werden wir jetzt wieder von vorn anfangen?«
    »Nein, Sohn. Das werden wir nicht.« Ich schaute auf den Boden, auf das Stroh und die Erde und die zerfransten, toten Blätter. »Ich vermisse deine Mutter«, sagte er schließlich.
    »Ich auch.«
    Wir saßen lange Zeit schweigend da, und die Sonne strömte herein. »Ich verstehe es, weißt du«, sagte er schließlich. »Was verstehst du?« Er zögerte.

Weitere Kostenlose Bücher