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Der dunkle Fluss

Der dunkle Fluss

Titel: Der dunkle Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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im Halbdunkel über mir und an die Lüge, die in ihrer Stimme zu hören war, als sie mir sagte, es habe nichts zu bedeuten. Ich sah sie auf der Farm, wie sie mich zum Einsteigen aufforderte, wie sie unsere Vergangenheit tief unten begraben und den Hut der Polizistin aufgesetzt hatte. »Mein Vater hatte recht«, sagte ich. »Du solltest dich schämen.«
    Ich stand auf.
    »Adam ...«, sagte sie.
    Aber ich ging hinaus, ging zu Fuß zum Krankenhaus. Ich schlich mich am Schwesternzimmer vorbei und fand Grace' Zimmer. Ich hatte dort nichts zu suchen, doch manchmal weiß man einfach, was richtig ist. Also drückte ich mich durch den dunklen Türspalt und schob einen Stuhl an ihr Bett. Sie öffnete die Augen, als ich ihre Hand nahm, und erwiderte meinen Händedruck. Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn und sagte, ich würde über Nacht bleiben. Als sie wieder einschlief, blieb ein Hauch von Trost auf ihrem Gesicht zurück.

FÜNFZEHN
    I ch wachte um fünf Uhr auf und sah Licht in ihren Augen. Als sie lächelte, war ihr anzusehen, dass es wehtat. »Nicht«, sagte ich und beugte mich über sie. Eine Träne rollte aus einem Auge. »Sei nicht traurig.«
    Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Ihre Stimme klang brüchig. »Ich bin nicht traurig. Ich dachte, ich wäre allein.«
    »Nein.«
    »Ich habe geweint, weil ich Angst hatte.« Sie lag starr unter ihrer Decke. »Ich hatte nie Angst, wenn ich allein war.«
    »Grace ...«
    »Ich habe Angst, Adam.« Ich stand auf und nahm sie in die Arme. Sie roch nach Desinfektionsmittel, Krankenhausseife und Angst. Die Muskeln auf ihrem Rücken waren angespannt, lange, harte Stränge, und die Kraft ihrer Arme war überraschend. Sie war so klein unter dieser Decke.
    »Alles okay«, sagte sie schließlich.
    »Wirklich?«
    »Ja.«
    Ich setzte mich wieder. »Kann ich dir etwas bringen?«
    »Sprich nur mit mir.«
    »Kannst du dich erinnern, was passiert ist?«
    Sie bewegte den Kopf auf dem Kissen. »Ich hab nur gespürt, dass jemand hinter einem Baum hervorkam, und dann bekam ich einen Schlag ins Gesicht — mit einem Brett, einem Knüppel, irgendetwas aus Holz. Ich weiß, dass ich ins Gebüsch fiel und dann auf dem Boden lag. Jemand stand über mir. Mit einer Maske. Und der Knüppel kam noch einmal.« Sie hob die Arme vor das Gesicht, als wollte sie es schützen, und ich sah die Blutergüsse an ihren Unterarmen. Abwehrverletzungen.
    »Erinnerst du dich noch an etwas andere ?«
    »Ein bisschen daran, dass ich nach Hause getragen wurde. Dolfs Gesicht im Licht der Veranda, seine Stimme. Dass ich fror. Ein paar Minuten hier im Krankenhaus. Und dass ich dich hier gesehen habe.«
    Ihre Stimme verklang, und ich wusste, wo sie mit ihren Gedanken war. »Erzähl mir etwas Gutes, Adam.«
    »Es ist vorbei«, sagte ich, aber sie schüttelte den Kopf.
    »Das ist nur die Abwesenheit von etwas Schlechtem«, sagte sie. Was konnte ich ihr erzählen? Was hatte ich denn Gutes gesehen, seit ich wieder hier war?
    »Ich bin hier für dich. Was immer du brauchst.«
    »Erzähl mir noch etwas anderes. Irgendwas.«
    Ich zögerte. »Ich habe gestern Morgen einen Hirsch gesehen.«
    »Ist das etwas Gutes?«
    Der Hirsch spukte mir schon den ganzen Tag im Kopf herum. Weiße Hirsche waren selten, außergewöhnlich selten. Wie groß war die Chance, dass man zwei zu sehen bekam? Oder denselben zweimal?
    »Das weiß ich nicht.«
    »Ich hab immer einen großen gesehen«, sagte sie. »Das war nach deinem Gerichtsverfahren. Ich hab ihn nachts gesehen, auf dem Rasen vor meinem Fenster.«
    »War er weiß?«, fragte ich.
    »Weiß?«
    »Schon gut.« Ich war plötzlich ratlos und verloren in der Vergangenheit. »Danke, dass du zur Verhandlung gekommen bist«, sagte ich. Jeden Tag war sie da gewesen, ein sonnenverbranntes Kind in verschlissenen Kleidern. Anfangs hatte mein Vater sich geweigert, sie mitzunehmen. Das schickt sich nicht, meinte er. Da war sie zu Fuß gegangen. Dreizehn Meilen. Danach hatte er kapituliert.
    »Wie hätte ich denn nicht kommen können?« Wieder flossen die Tränen. »Erzähl mir noch etwas Gutes.« Ich suchte nach etwas, das ich ihr geben könnte. »Du bist ganz erwachsen«, sagte ich schließlich. »Du bist schön.«
    »Nicht, dass es darauf ankäme«, sagte sie düster, und ich wusste, dass sie daran dachte, was am Fluss zwischen uns vorgefallen war, nachdem sie vom Steg weggelaufen war. Ich hatte ihre Worte noch im Ohr: Ich bin nicht so jung, wie du glaubst.
    »Du hast mich überrascht«, sagte ich. »Das ist

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