Der dunkle Geist des Palio (German Edition)
er die Nacht mit Maria verbracht hatte. Und sie besaß genug Fantasie, um sich auszumalen, womit sich die beiden die Zeit vertrieben hatten.
»Na und?«, murmelte sie jetzt vor sich hin. »Das kann mir doch völlig egal sein!« War es aber nicht. Nein, es verletzte sie immer noch, dass Angelo sie so eiskalt für Maria abserviert hatte. Er hatte sie sitzen gelassen für eine Frau, die so typisch italienisch aussah, dass es schon langweilig war. Ganz anders als sie selbst mit ihrem dunkelblonden Haar, den türkisfarbenen Augen, den vollen roten Lippen in dem herzförmigen Gesicht und der kurvenreichen Figur, die jedes Männerherz höherschlagen ließ. Antonia wusste, dass sie hübsch war. Wenn sie lächelte, strahlten ihre ebenmäßigen weißen Zähne, um die sie sicher jede Hollywoodschauspielerin beneidete. Und für ihre Brüste hätte so manche Frau bereitwillig eine Menge Geld beim Schönheitschirurgen bezahlt. Ja, sie war sexy – aber nicht sexy genug für Angelo. Der hatte ihr eine Frau vorgezogen, die nichts Besonderes an sich hatte außer einer Menge Geld und einem noblen Elternhaus. Nein, das stimmte nicht ganz. Antonia wies sich selbst zurecht. Natürlich war Maria hübsch. Hübsch und überheblich. Als wäre es ihr Verdienst, dass ihr auf der Welt jede Tür offen stand. Maria, die sich einbildete, etwas Besseres zu sein, weil sie eine Morelli war. Dabei war sie nichts weiter als eine ragazza impertinente, eine verwöhnte Göre, die mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden war. Was konnte sie, Antonia, dafür, dass ihre Eltern nicht so viel Geld besaßen wie die Morellis? Und dass sie deswegen nur die Möglichkeit bekommen hatte, eine Hauswirtschaftsschule zu besuchen und als Dienstmädchen für reiche Leute zu arbeiten, die sich zu fein waren, ihren Dreck selbst wegzumachen, anstatt zu studieren.
Selbstverständlich hatte Angelo sie freundlich angelächelt, als sie einander im Flur begegnet waren. Freundlich und ein bisschen verlegen. Und bei seinem Anblick war ihr das Herz in die Hose gerutscht. Dieses jungenhafte Lächeln mit dem schiefen Mund, den blitzenden Augen und dem Grübchen auf der linken Wange. Doch sie hatte sich nichts anmerken lassen (wenigstens hoffte sie das). Denn er sollte nicht wissen, nicht einmal ahnen, wie sehr er sie verletzt hatte, als er sie für Maria verließ.
»Ciao, Antonia, wie geht es dir?«, hatte er sie gefragt, fast ein wenig von oben herab, als sei er jetzt, da er mit der Tochter des Hausherrn schlief und nicht mehr mit dem Dienstmädchen, etwas Besseres als sie.
»Nein«, sprach Antonia zu sich selbst. »Ich kann wirklich froh sein, dass ich diesen Scheißkerl los bin.« Und trotzdem malte sie sich insgeheim aus, wie sie Angelo und Maria eins auswischen könnte. Warum sollte eigentlich nur sie sich die ganze Zeit grämen? Wie wäre es wohl, wenn sie Angelo und Maria mal einen gehörigen Schrecken einjagte? Allein bei dieser Vorstellung huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie brauchte es ja nicht wirklich zu tun, es reichte schon, darüber nachzudenken, um sich gleich etwas besser zu fühlen. Und daran war ja wohl nichts Verbotenes.
Marias Absätze klapperten auf dem alten Pflaster. Sie ging schnell, obwohl sie es nicht eilig hatte. Trotzdem blieb ihr genug Zeit, ihre Umgebung zu betrachten. Überall hingen bereits gelbe Fahnen mit dem Zeichen der Contrade aus den Fenstern und an den Hauswänden: ein zweiköpfiger Adler mit einer Krone über den Häuptern, der in seinen Krallen ein Zepter, ein Schwert und einen kaiserlichen Globus hielt.
Ringsum wurde geputzt, die Straßen und Häuser auf Hochglanz gebracht, und Vorkehrungen für den Palio getroffen. Die Menschen eilten geschäftig an ihr vorbei, alte Frauen trugen stapelweise frisch gewaschene und gestärkte Tischtücher unter den Armen von hier nach dort oder schrubbten die Tische und Stühle fürs Festbankett, während sich junge Männer im Schwenken und Werfen der Fahnenstangen übten.
Maria lächelte zufrieden. Wie sie diese Geschäftigkeit in ihrem Viertel in den Tagen vor dem Rennen liebte! Alle packten mit an, um den Palio zu einem Erfolg werden zu lassen. Sie fühlte sich wie ein Teil einer sehr, sehr großen Familie. Nicht zuletzt deshalb, weil sie ständig jemand grüßte oder ihr zuwinkte.
»Ciao, Maria!«
Maria erkannte die Stimme auf Anhieb. Sie war ihr so vertraut wie die Stimme ihres Vaters oder ihrer Freundin Claudia. Noch bevor sie sich umdrehte, wusste sie, wer sie da gerufen
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