Der dunkle Geist des Palio (German Edition)
es nun eine brenna werden würde, ein klapperiger Gaul, der kaum Siegchancen hatte, oder ein cavallo buono, ein gutes Pferd, lag allein in der Hand Gottes.
Maria schlenderte weiter und erkannte den jungen Mann sofort, der wenige Meter vor ihr am Tisch eines Straßencafés saß und in einer Zeitung blätterte. Und während sie ihn betrachtete, fiel ihr einmal mehr auf, wie attraktiv er war. Sein dichtes, dunkles, leicht gelocktes Haar war ein bisschen länger und verlieh ihm, zusammen mit dem obligatorischen Dreitagebart und dem kantigen Gesicht, etwas Verwegenes. Dabei war er recht groß und hatte eine sehr sportliche Figur. Es verwundert nicht, dachte Maria, dass er bei Frauen gute Chancen hat. Sie konnte sich noch daran erinnern, dass sie selbst einmal unsterblich in Alessandro verliebt gewesen war. Damals war sie vielleicht dreizehn oder vierzehn, als Alessandros bloße Anwesenheit bei Familienfesten ihr die Sprache verschlug und sie zu einem albern kichernden Geschöpf mit vor Aufregung geröteten Wangen werden ließ. Aber obwohl Maria glaubte, ihre Liebe sei offensichtlich, hatte Alessandro nie etwas von ihrer Schwärmerei bemerkt. Vielleicht war er aber auch nur höflich genug gewesen, nicht darauf einzugehen. In seinen Augen war Maria damals vermutlich nichts anderes als ein pubertierender Teenager, während er sich selbst mit seinen knapp achtzehn Jahren für erwachsen hielt.
Als Maria dann so alt war, hatte es eine Zeit gegeben, in der Alessandro die junge Frau in ihr entdeckte und betont nett zu ihr war, wodurch ihre Gefühle für ihn wieder aufflammten. Sie erinnerte sich sehr gut an einen Abend, an dem sie intensiv miteinander geflirtet und sogar ein wenig geknutscht hatten. Bei dem Gedanken daran bekam sie noch heute rote Wangen.
An diesem Abend hatten sie wohl beide gemerkt, dass das keine gute Idee gewesen war, und eine Weile fühlten sie sich beide peinlich berührt, wenn sie einander begegneten. Doch spätestens seit Angelo in Marias Leben getreten war, gehörte dieses Thema der Vergangenheit an und sie konnten wieder ganz unbefangen miteinander umgehen. Und so freute sich Maria jetzt, ihren Cousin zu sehen, und lief schnurstracks auf ihn zu.
»Ciao, Alessandro«, sprach sie ihn an und blieb an seinem Tisch stehen.
Alessandro blickte zu ihr hoch und grinste schief, als er sie erkannte. »Ciao, bella! « Er stand auf und begrüßte sie mit den obligatorischen Wangenküssen, bevor er seine Zeitung zusammenfaltete und auf den freien Stuhl an seinem Tisch deutete. »Setz dich zu mir und trink eine Tasse Kaffee mit. Oder hast du es eilig?«
Maria schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe Zeit«, sagte sie, während sie bereits Platz nahm und sich bei dem aufmerksamen Kellner einen Espresso macchiato bestellte.
»Wie geht es dir, Cousinchen?«, fragte Alessandro.
»Ganz gut«, antwortete Maria. »Ich genieße noch meine letzten freien Tage, bevor ich im September meine Ausbildung beginne.«
»Ach ja, richtig«, sagte Alessandro. »Krankenschwester, nicht wahr?«
Maria nickte. »Ja, und im Anschluss daran will ich Medizin studieren. Mal sehen.« Sie nippte an ihrem heißen Kaffee. »Und was macht dein Studium?«
Er zuckte mit den Schultern. »Im Augenblick mache ich nicht so viel an der Uni.«
»›Im Augenblick‹?«
Alessandro grinste. »So bin ich halt, was soll ich tun? Es liegt mir nicht, mein ganzes Leben im Voraus zu planen. Ich warte lieber ab, was auf mich zukommt.«
»Wenn du zu lange wartest, kommt vielleicht überhaupt nichts mehr auf dich zu.«
»Ach, sei doch nicht so pessimistisch«, erwiderte Alessandro. »Irgendetwas ergibt sich immer.«
»Wenn du meinst …«
»Wie geht es deinem Vater?«
»Er hat sich von eurem letzten Zusammentreffen wieder erholt.«
Alessandro lachte. »Und dieser hübschen Kleinen? Antonia heißt sie, nicht wahr?«
Maria zog die Augenbrauen hoch. »Woher kennst du unsere Haushälterin?«
»Ich bin ihr das letzte Mal bei euch begegnet. Ein sehr nettes Mädchen.«
»Ach ja?«
»Oh ja, nett und hübsch.«
»Hübsch ist sie, das muss ich zugeben«, sagte Maria. »Aber nett? Hast du dich denn mit ihr unterhalten?«
»Allerdings«, sagte Alessandro, »und ich finde sie sehr sympathisch.«
Maria machte ein skeptisches Gesicht. Antonia und sympathisch? Das war ihr bis jetzt entgangen.
Alessandro bemerkte ihre Zweifel. »Sie interessiert sich sehr für Musik, hat sogar eine ganze Menge Ahnung davon. Und außerdem unterstützt sie eine Organisation, die
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