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Der dunkle Geist des Palio (German Edition)

Der dunkle Geist des Palio (German Edition)

Titel: Der dunkle Geist des Palio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Frank
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September. Den ersten Sieg des Adlers, den ich miterleben durfte, gab es 1931. Es war der Juli-Palio, wissen Sie?«
    Signore Morelli nickte und übte sich in Geduld. Dieses Gespräch gehörte ebenso zu seinen Pflichten wie die Organisation des Rennens. Er war in diesen Tagen Ansprechpartner für alle Sorgen und Nöte der Bürger seines Viertels.
    »Damals war ich gerade einmal fünfzehn Jahre alt.« Der alte Mann lächelte bei der Erinnerung. »Madonna, was haben wir damals gefeiert!«
    Marias Vater lachte mitfühlend. Auch er erinnerte sich noch gut an die ausschweifenden Feste, die er als junger Mann nach einem gewonnenen Palio gefeiert hatte.
    »Seitdem habe ich insgesamt zehn Siege des Adlers miterleben dürfen. 1931 war der erste, dann 1939, 1956, 1959 …«, er zählte die Siege mit seinen knochigen alten Fingern mit, »… 1965, 1973, 1979, 1981, 1988 und der letzte Sieg 1992.«
    Signore Morelli nickte und wunderte sich kein bisschen, dass der alte Mann jedes Datum exakt im Kopf hatte. Vermutlich musste er länger überlegen, wenn man ihn nach seinem Hochzeitstag oder den Geburtstagen seiner Kinder und Enkelkinder fragte. Aber mit dieser Art selektivem Gedächtnis war Bertani ganz gewiss nicht der Einzige in Siena.
    »1992 … Das ist jetzt auch schon zwanzig Jahre her. Und ich habe nur noch den einen einzigen und letzten Wunsch, bevor ich sterben muss: Ich möchte einen weiteren Sieg des Adlers miterleben!« Nun war es um die Beherrschung des Alten ganz geschehen und eine Träne kullerte aus seinem müden, grauen Auge, die er sich unbeholfen wegwischte.
    Morelli legte dem Alten tröstend den Arm um die Schulter. »Signore Bertani«, sagte er ernst, »ich verspreche Ihnen, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um dem Adler in diesem Jahr zu einem Sieg zu verhelfen.«
    Bertanis Kopf wackelte und Morelli wusste nicht genau, ob der Alte nickte oder ob ihm einfach die nötige Kraft fehlte, um den Kopf gerade zu halten, als er aus dem Augenwinkel eine ihm vertraute Gestalt wahrnahm, die nur wenige Schritte entfernt an ihm vorbeihastete. Er runzelte die Stirn, als er seinen zukünftigen Schwiegersohn Angelo erkannte, der es verdammt eilig zu haben schien. Ihm entging auch nicht der wutverzerrte Ausdruck auf dem Gesicht des jungen Mannes, auf den er sich keinen Reim machen konnte, der ihn aber sogleich in Alarmbereitschaft versetzte. War mit Maria alles in Ordnung? Hatten sich die beiden jungen Leute etwa gestritten? Augenblicklich wallten widersprüchliche Gefühle in ihm auf: Natürlich wünschte er seiner über alles geliebten Tochter das ganz große Glück, im Stillen bezweifelte er aber, dass sie es bei Angelo finden würde. Wie gern hätte er Angelo hinterhergerufen, er möge stehen bleiben und ihm erklären, was der Grund für seinen Zorn und das Ziel seiner eiligen Schritte war. Aber selbstverständlich konnte er Signore Bertani nicht einfach so stehen lassen. Also übte er sich in Geduld.
    »Sie sind ein guter capitano «, sagte Bertani jetzt. »Ein sehr guter. Wir könnten uns keinen besseren wünschen. Ich bin sicher, dass Sie alles richtig machen. Und für den Rest …« Ein schelmischer Ausdruck schlich sich auf das Gesicht des alten Mannes, der ihn augenblicklich zehn Jahre jünger wirken ließ. »… für den Rest ist die heilige Jungfrau zuständig.«
     
    »Heilige Jungfrau!«, dachte Maria, während sie sich die Bescherung in ihrem Zimmer ansah und dann den Kopf schüttelte, als sie endlich eine Entscheidung getroffen hatte: Nein, sie würde jetzt nicht ihr Zimmer aufräumen. Und sie würde auch nicht ihre Freundin anrufen, um ihr alles haarklein zu berichten. Die Vorstellung, Claudias Nachfragen nach den brisanten Details beantworten zu müssen, bereitete ihr Magenschmerzen. Erst einmal musste sie Abstand zu allem gewinnen und zur Ruhe kommen, sich darüber klar werden, was sie tun wollte. Sollte sie die Polizei anrufen? Immerhin war jemand in ihr Haus eingedrungen – was, wie sie wusste, bei dem alten Schloss und der dazugehörenden, ebenso alten Haustür nicht weiter schwer war, solange man das richtige Werkzeug besaß. Oder sollte sie lieber abwarten, bis Angelo zurückkam und ihr berichtete?
    »Ach, Angelo …«
    Maria machte sich Sorgen, dass ihr Verlobter den Kopf verlor. Er war so erzürnt gewesen. So kannte sie ihn gar nicht. Nein, es war besser zu warten, bis er zurückkehrte, bevor sie die Polizei einschaltete. Wer konnte schon wissen, was er mit Gianluca anstellen

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