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Der dunkle Geist des Palio (German Edition)

Der dunkle Geist des Palio (German Edition)

Titel: Der dunkle Geist des Palio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Frank
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Dieser kleine Junge konnte zwar Exkremente nicht von Experimenten unterscheiden, aber den Unterschied zwischen einem Adler und einem Drachen hatte er bereits mit der Muttermilch eingesogen. Wie jeder Sienese. Nicht umsonst gab es in Siena die gruppi piccoli, die Kindergruppen, in denen die Kinder die Werte der Contrade wie Freundschaft und Zusammenhalt lernten.
    Maria erinnerte sich, dass sie einmal mit ihrem Vater zu Besuch bei einer entfernten Verwandten gewesen war, die ein kleines Kind hatte. Sie hatten gemeinsam am Tisch gesessen und Maria hatte zugesehen, wie das knapp zweijährige Mädchen gefüttert wurde. »Einen für Mama«, hatte die Mutter gesagt und dem Mädchen den Löffel mit Brei vor die Nase gehalten. »Einen für Papa.« Der nächste Löffel schwebte in den geöffneten Mund des Kleinkinds. »Und einen für den Adler.« Maria hatte gelacht, doch nach dem folgenden Satz der Mutter war ihr das Lachen im Halse stecken geblieben, denn die junge Frau hielt ihrer Tochter den nächsten Löffel hin und sagte: »Und dieser hier ist für den Panther.« Als das Mädchen erwartungsvoll den Mund aufsperrte, zog die Mutter den Löffel jedoch wieder weg und fuhr fort: »Für den Panther gibt es nichts.« Das Kind begann zu weinen.
    Und Maria erinnerte sich auch noch an das barberi- Spiel, das sie in der Kindergruppe früher selbst mitgespielt hatte. Dabei wurden Holzkugeln, die in den Farben der siebzehn Contraden bemalt waren, eine abschüssige Gasse hinuntergerollt und die Kugel, die als erste unten ankam, hatte gewonnen.
    Wenn sie ehrlich war, dann musste sie zugeben, dass sie vorhin beim Stadtbummel selbst noch einen Umweg in Kauf genommen hatte, um nicht durch das benachbarte Viertel des Panthers gehen zu müssen. Das Jahr über war es kein Problem, fremde Contraden zu durchqueren. Aber in den Tagen des Palio, in denen sie so wie heute gern das fazzoletto trug, ein Seidentuch mit dem Symbol des Adlers, das sie sich um die Schultern gelegt hatte, mied sie die Begegnung mit der verfeindeten Contrade lieber.
    »Also?«, hakte Luigi nach, dem Marias Schweigen offenbar zu lange dauerte. »Ist er nun ein Adler oder nicht?«
    »Nein, er ist kein Adler«, gab Maria zu. »Er ist ein Drache.«
    Luigi nickte, als wollte er sagen, hab ich’s doch gewusst, dass da was nicht stimmt. »Und wenn man heiratet, dann bekommt man doch auch Kinder, oder?«, fuhr er anschließend in seinen Gedanken fort.
    »Irgendwann vielleicht schon, ja.«
    »Und werden eure Kinder dann Adler oder Drachen?«
    »Wir werden uns schon einigen«, antwortete Maria, die selbst nur ungern darüber nachdachte, wie sie dieses Problem der Zukunft handhaben würden.
    Luigi nickte wissend. »Mit kleinen Kindern ist es ohnehin schwierig.«
    »Ach ja? Und wieso?«
    »Na ja, mein kleiner Bruder zum Beispiel. Der hat noch nicht mal einen Stecker, den man hin und wieder rausziehen kann, damit er mal Ruhe gibt. Der schreit und schreit und schreit, dass man gar nicht schlafen kann.«
    »Ja, das ist wirklich schlimm«, stimmte Maria zu und unterdrückte ein Lächeln. »Dass die Kinder ohne Ein- und Ausschaltknopf ausgeliefert werden ist eine wahre Schande.«
    Luigi musterte sie von der Seite, als wollte er herausfinden, ob sie ihn noch ernst nähme. Doch dann glitt sein Blick über sie hinweg und richtete sich auf irgendetwas hinter ihrem Rücken. An seinen zusammengezogenen Augenbrauen konnte Maria erkennen, dass er etwas gesehen hatte, was ihm nicht gefiel.
    Sie wandte sich ebenfalls um und erkannte Angelo, der sich ihnen von hinten näherte. Noch ehe er sie erreicht hatte, macht Luigi seine Ankündigung wahr und verschwand ohne ein Wort des Abschieds im Gebüsch.
    Angelo ließ sich ohne Zögern auf den frei gewordenen Platz neben Maria sinken. Seine Lippe war geschwollen und unter seinem linken Auge meinte sie einen bläulichen Schatten zu sehen.
    »Warum verschwindet der Kleine so schnell? Hat er Angst vor mir?«, fragte Angelo.
    »Nein, er mag dich nur nicht.«
    Angelo legte die Stirn in Falten. »Er mag mich nicht? Er kennt mich doch gar nicht!«
    »Aber er weiß, dass du mich heiraten wirst. Und das gefällt ihm nicht, weil er selbst mich doch heiraten möchte.«
    »Noch so einer.« Angelo grinste. »Ich habe mit Gianluca geredet«, fuhr er nach einer kleine Pause fort. »Er hat alles zugegeben. Aber von nun an wird er dich in Ruhe lassen, verlass dich drauf.«
    »›Geredet‹? Was hast du mit ihm gemacht? Sieht er auch so aus wie du?«
    Angelo schwieg

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