Der dunkle Geist des Palio (German Edition)
verschrumpelt auf dem Boden lagen. Mit dem Blatt in der Hand drehte sie sich zu ihrem Verlobten um.
»Was ist denn?«, wollte Angelo wissen. Er konnte zwar an Marias Gesichtsausdruck sehen, dass sie sich über irgendetwas Sorgen machte – er hatte aber keine Ahnung, worüber.
»Findest du das nicht merkwürdig?«, fragte Maria und hielt ihm das Blatt entgegen. »Es ist Mitte August und der Baum wirft all seine Blätter ab!«
Angelo zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich habe leider nicht die geringste Ahnung, was für so einen Baum normal ist und was nicht«, antwortete er.
Maria betrachtete nachdenklich das Blatt in ihrer Hand, drehte und wendete es von einer Seite zur anderen, als erwartete sie, dass es ihr Auskunft darüber geben könnte, warum es abgefallen war.
»Warum schaust du denn so sorgenvoll drein?«, erkundigte sich Angelo. Er stand auf und stellte sich neben Maria, den Blick nun ebenfalls auf das Blatt gerichtet. »Vielleicht fehlt dem Baum einfach irgendein Mineral. Zu wenig Kalk … oder zu viel … Was weiß ich. Ich denke, du solltest mal euren Gärtner …«
Als Maria den Kopf hob und ihn anblickte, verstummte Angelo schlagartig. Aus ihrem Gesicht war jegliche Farbe gewichen. Sie sah aus, als wäre sie soeben dem Leibhaftigen persönlich begegnet.
»Mein Gott, Maria, was ist denn los?«
»Ja, weißt du denn nicht, was für ein Baum das ist?«
»Nein, ich habe wirklich keine Ahnung von Bäumen. Vielleicht ist es eine Kastanie? Oder eine …«
Maria schüttelte den Kopf. »Das meine ich doch nicht«, sagte sie entschieden. »Das ist der Baum, an dem sich Eva Maria erhängt hat!«
Angelos Unterkiefer klappte herunter und er blickte Maria schweigend an.
»Verstehst du jetzt endlich?«, fragte Maria weiter. Ihre Stimme klang hysterisch. »Der Baum verliert seine Blätter. Und es ist Mitte August!«
»Wann hat sich Eva Maria noch einmal daran erhängt?«
»Am 28. August 1880. Zwölf Tage nach dem Palio. An dem Tag, der eigentlich ihr Hochzeitstag hatte werden sollen!«
»Also in genau sechzehn Tagen.« Angelo schwieg nachdenklich, während er sich an Marias Worte zu erinnern versuchte. »Und nach Eva Marias Selbstmord verlor der Baum an jedem Todestag all seine Blätter.«
»So steht es zumindest in der Chronik meiner Familie.«
»Bis zum Tod von Eva Marias Vater. Erst danach fand der Spuk ein Ende.«
»Genau. Aber warum fängt der Spuk ausgerechnet jetzt wieder an?«
Sie sahen einander schweigend in die Augen. Und keiner von beiden wollte aussprechen, was er dachte.
Es ist das Rot der Koralle, das mir im Herzen brennt.
Motto der Muschel (nicchio)
10
Montag, 13. August, drei Tage vor dem Palio
A ls Maria am folgenden Morgen in den Spiegel blickte, erschrak sie vor ihrem eigenen Spiegelbild. Tiefe dunkle Ringe unter den Augen legten ein eindrucksvolles Zeugnis davon ab, wie schlecht sie in der vergangenen Nacht geschlafen hatte. Stundenlang hatte sie sich unruhig von einer Seite auf die andere gewälzt. Bis sie es endlich schaffte, sich selbst zu beruhigen, indem sie sich sagte, dass es auch ganz natürliche Erklärungen dafür geben konnte, warum der Baum seine Blätter abwarf. Vielleicht hatte Angelo recht und dem Baum fehlte einfach irgendein wichtiger Nährstoff. Oder vielleicht war auch seine Zeit gekommen – schließlich musste er weit über zweihundert Jahre alt sein. Irgendwann gingen eben auch alte Bäume zugrunde.
Maria versuchte, ihr müdes Gesicht mithilfe von Farbe zu mehr Leben zu erwecken. Als sie endlich mit dem Ergebnis ihrer Bemühungen einigermaßen zufrieden war, klopfte es an die Tür zu ihrem Badezimmer.
»Maria? Wie weit bist du? Wenn wir zusammen zur batterie di selezione wollen, dann müssen wir jetzt los! Ich darf auf keinen Fall zu spät kommen.«
»Ich komme, Papa«, antwortete Maria und schloss mit einer energischen Bewegung ihr Schminktäschchen. »Ich komme.«
Stehend hatte Maria einen Espresso ohne Zucker in sich hineingeschüttet. Jetzt stand sie im Innenhof des Palazzo Publicco in der Nähe der siebzehn capitani, die noch einmal alle zur Auswahl stehenden Pferde sorgfältig begutachteten, bevor sie ihre Stimmen abgeben mussten. Von den ursprünglich sechsundzwanzig Pferden waren nur noch vierundzwanzig übrig geblieben. Zwei hatte der Tierarzt aussortiert, weil sie lahmten. Die Überprüfung des Gesundheitszustandes der Tiere war eine sehr wichtige Formalität, denn stand die Teilnahme eines Pferdes erst einmal fest,
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