Der dunkle Geist des Palio (German Edition)
Ermangelung eines Stück Papiers die Namen und Nummern der Pferde auf die Haut geschrieben hatte.
Maria hatte keine Aufzeichnungen zur Hand. Sie wusste, dass der Favorit ihres Vaters, Fabioncello, die Nummer vier trug. Und dass er keinesfalls das Pferd mit der Nummer neun haben wollte, das seiner Meinung nach ein brenna war.
»Il Palio si corre tutto l’anno«, lautete ein Sprichwort. Den Palio läuft man das ganze Jahr. Und jeder in Siena wusste, wie viel Wahrheit in diesem Sprichwort steckt. Der Palio war ein immerwährendes Gesprächsthema. Unabhängig davon, ob es gerade Sommer, Winter, Frühjahr oder Herbst war. Aber dies hier, die Auslosung der Pferde auf die einzelnen Contraden, war einer der Höhepunkte des Rennens. Er war so etwas wie der vorgezogene Startschuss. Und jeder betete still zur Göttin Fortuna, sie möge gnädig sein und seiner contrada ein gutes Pferd zuteilen. Un cavallo buono! Einen Sieger!
Endlich wurden die Pferde aus dem Innenhof des Palazzo Publicco hinausgeführt und zu den vorbereiteten mobilen Stallabteilen gebracht. Fast schon ehrfurchtsvoll wich die Menge zur Seite und bildete für die Tiere eine Gasse.
Maria beobachtete ihren Vater, der nur wenige Meter von ihr entfernt stand. Sein sorgenvolles Gesicht ließ sie gerührt lächeln. Er wirkte nervös und angespannt und sie wusste, ihn quälte die Untätigkeit. Dabei hatte er alles in seiner Macht Stehende getan, um den Palio für den Adler zu einem Erfolg werden zu lassen. Nun konnte er nichts anderes tun, als zu hoffen, dass das Glück ihnen hold war. Eine Woge der Zuneigung überflutete Marias Herz. Sie wandte sich um und versuchte, auch Angelo in der Menge ausfindig zu machen. Doch sie konnte ihn nirgends entdecken. Alles, was sie sah, waren die Köpfe der Umstehenden.
Hatten in den Vormittagsstunden die Menschen noch Platz im wandernden Schatten des Torre del Mangia gefunden, so war jetzt der ganze Campo mit Zuschauern gefüllt und es gab keine Möglichkeit, der brennenden Mittagssonne zu entrinnen, geschweige denn, einen bestimmten Menschen in der Menge ausfindig zu machen.
Als nun die Fanfare erklang, die den Beginn der assegnazione, der Zuweisung der Pferde zu den Contraden, verkündete, verstummten schlagartig die letzten, leise geführten Gespräche. Und war es zuvor schon auffallend ruhig gewesen, so hatte die jetzt einsetzende Stille etwas Gespenstisches an sich. Jeder hielt den Atem an und lauschte auf die Verkündung der ersten Nummer, die gezogen wurde.
Maria, die recht weit vorne stand, konnte sogar das Rotieren der beiden Lostrommeln hören. Wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten wurden die von Messingstreben gehaltenen Glasbehälter mithilfe von Kurbeln per Hand gedreht. Einige Male links herum, einige Male rechts herum. Und die farbenfrohen Kostüme des Bürgermeisters und der Pagen verstärkten noch den Eindruck, in ein längst vergangenes Jahrhundert zurückversetzt worden zu sein.
Sehen konnte Maria nichts. Aber als nun auch die Geräusche der sich drehenden Lostrommeln verstummten, wusste sie, dass der entscheidende Moment gekommen war. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich ganz darauf, die Stimme des Bürgermeisters zu hören.
»Due«, verkündete der Bürgermeister die Zahl, die auf dem ersten gezogenen Los stand.
»Due«, wiederholten die Menschen links und rechts, vorne und hinten die gehörte Zahl und ergänzten sie murmelnd mit dem Namen des dazugehörenden Pferdes: »Fairway.«
An der Betonung konnte man erkennen, dass Fairway weder ein besonders schlechtes noch ein besonders gutes Pferd war. Genau genommen gab es über dieses Pferd wenig zu sagen, da es noch recht jung war und dies sein erster Palio werden würde.
Erneut erstarb das Gemurmel, während nun alle darauf warteten zu erfahren, für welche Contrade Fairway laufen würde.
»Torre!«, ließ sich die Stimme des Bürgermeisters laut und deutlich durch das Mikrofon vernehmen und irgendwo am anderen Ende des großen Platzes konnte Maria verhaltenen Jubel hören, wo sich die Anhänger des Turms versammelt hatten. Sie sah ihren Vater zufrieden nicken, während nun bereits die Lostrommeln für das nächste Pferd gedreht wurden.
Jetzt war es nicht mehr ganz so leise wie zuvor, denn die Bewohner des Stadtviertels Torre stürmten auf ihr Pferd zu und führten es unter Jubelgesängen in den vorbereiteten Stall.
Maria blickte starr auf die Anzeigetafeln, um die nächste gezogene Nummer auf keinen Fall zu verpassen.
»Quattro«,
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