Der dunkle Geist des Palio (German Edition)
konnte es nicht mehr ausgetauscht werden. Unter Umständen bedeutete das dann sogar das vorzeitige Aus für eine der Contraden. Und das galt es natürlich unbedingt zu verhindern.
War der Tierarzt mit seiner Untersuchung fertig, wurden die Schenkel der Pferde mit deutlich sichtbaren Nummern versehen. Hatte das Pferd ein dunkles Fell, dann war die Nummer weiß, war das Fell hell, so war die Nummer schwarz.
Maria verfolgte alles mit großem Interesse. Schon jetzt kam ein wenig Palio-Stimmung in ihr auf. Durch den großen Torbogen, der von der Piazza del Campo aus in den Innenhof des Palazzo Pubblico, dem entrone, führte, drangen die Stimmen der Menschen, die sich bereits auf dem Platz versammelt hatten. Vor allem Männer standen hier in kleinen Gruppen gestikulierend und diskutierend zusammen, mit Zetteln in der Hand, auf denen sie die Namen der Pferde notiert hatten. Aber auch das eine oder andere junge Mädchen hatte Maria auf ihrem Weg hierher gesehen. Noch hielt sich das Gedränge allerdings in Grenzen. Zur Mittagszeit, wenn es um die Verlosung der ausgewählten Pferde ging, würde sich das allerdings ändern.
Nachdem die Pferde ihre Nummern erhalten hatten, wurden sie, wie am Tag zuvor, den capitani in Gruppen zu je vier oder fünf Tieren vorgeführt. Ihre Hufe klapperten auf dem Kopfsteinpflaster, während die fantini, die jetzt noch neutral in den Farben der Stadt Siena gekleidet waren, sie im Kreis herumführten.
Maria musste schon genau hinsehen, bis sie Angelo ausfindig machen konnte. Er trug, wie alle seine Kollegen, eine schwarze Hose, ein weißes Oberteil und einen schwarz-weißen Helm und ritt auf einem ausgesprochen hübschen Grauschimmel. Doch ihr Verlobter war so auf seine Arbeit konzentriert, dass er sie gar nicht bemerkte.
Maria genoss die Nähe zu den Pferden. Allesamt waren es auffallend schöne Tiere mit hervorragendem Exterieur. Die Vorstellung, dass eines von ihnen stürzen und sich so schwer verletzen könnte, dass es an den Folgen starb, bereitete ihr mit einem Mal Sorge.
Um sich abzulenken, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den cencio, der an einer langen Stange in der Mitte des Innenhofes des Palazzo Publicco bereits für die Öffentlichkeit sichtbar ausgestellt worden war. Es war ein farbenfrohes Gemälde auf wertvoller Seide, das stets in irgendeiner Weise die Madonna, zu deren Ehren der Palio stattfand, und die Symbole der teilnehmenden Contraden zeigte. Jedes Jahr wurde der Palio von einem berühmten italienischen Künstler neu gestaltet und war das Objekt der Begierde für die fantini und die Contraden. Nun konnte Maria schon die Stunden zählen, bis sie hoffentlich zu den glücklichen Gewinnern gehörte, die ihrem fantino und ihrem Pferd den cencio überwarfen und sie unter Jubelgesängen nach Hause geleiteten.
Doch nach Hause kam Maria heute nicht so schnell. Selbst ihr kurzes Zusammentreffen mit Angelo hatte nur für eine flüchtige Umarmung und einen hastigen Kuss gereicht, bevor sie sich wieder trennten, um in der Gemeinschaft ihrer jeweiligen Stadtviertel der lang ersehnten Verlosung der Pferde beizuwohnen.
Marias Herz klopfte so laut, dass sie meinte, all die vielen Menschen, die sich mit ihr und um sie herum auf der Piazza del Campo versammelt hatten, müssten es hören. Es waren fast so viele Zuschauer anwesend wie am Renntag selbst, Junge und Alte, Frauen, Männer und Kinder. Doch so unterschiedlich sie auch waren – eines war allen gleich: Jeder trug irgendwo das Zeichen seiner contrada zur Schau: Auf Tüchern, Jacken, T-Shirts, ja, sogar auf Ober- und Unterarmen prangten Adler, Drachen, Gans, Panther, Stachelschwein, Einhorn oder Wölfin.
Dieses Jahr war Maria noch aufgeregter als die Jahre zuvor, was vermutlich damit zusammenhing, dass ihr Herz nicht nur für ihre eigene Contrade, sondern auch für Angelo schlug.
Natürlich waren nicht alle fünfzigtausend Einwohner Sienas zugegen, doch die Enge auf dem Campo ließ diesen Gedanken durchaus zu. Die Menschen standen dicht gedrängt und wer es nicht selbst erlebt hatte, konnte sich kaum vorstellen, dass so viele Leute so wenig Lärm machten. Hier und da murmelten einige Männer, zischten sich leise Bemerkungen zu, während sie ihre Aufzeichnungen über die Pferde verglichen. Maria beobachtete einen jungen Mann, der in ihrem Alter sein musste und den Blick unverwandt auf seine Handinnenfläche richtete. Sie runzelte die Stirn über sein merkwürdiges Verhalten, bis sie erkannte, dass der Fremde sich in
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