Der dunkle Geist des Palio (German Edition)
Luft und stießen wüste Beschimpfungen gegen die verfeindete Contrade des Panthers aus, während sie zugleich die Kraft und die Herrlichkeit des Adlers priesen.
Die Gasse öffnete sich zur Piazza del Campo und die Anhänger der einzelnen Contraden versammelten sich auf ihren angestammten Plätzen des Campo, die jeweils in Richtung ihres Stadtviertels lagen.
Jetzt war der Platz voller Menschen, die sich nach der Arbeit und vor dem Abendessen das erste Proberennen anschauen wollten. Es gab Stände mit Essen und Getränken, die Leute lachten und redeten und überall tobten Kinder herum, die bei dem eigentlichen Rennen nicht dabei sein würden. Aus allen Ecken des muschelförmigen Platzes erklangen Gesänge. Auf den Tribünen saßen Menschen, auf den Balkonen standen Menschen, aus den geöffneten Fenstern blickten Menschen heraus und schwenkten ihre Tücher.
Matteo hatte Fabioncello in den Innenhof des Palazzos geführt, wo Fernando das Pferd übernehmen würde und gemeinsam mit seinen Kollegen, unter ihnen Angelo, darauf wartete, dass die Bahn geräumt wurde und die Trommelwirbel den Beginn des ersten Proberennens verkündeten.
Maria hatte einen Platz direkt an der Absperrung zur Rennstrecke ergattert. Von hier aus hatte sie einen guten Blick auf das Tor, durch das die fantini ihre Pferde zur mossa, dem Startpunkt am oberen Ende des Platzes, führen würden. Angespannt wartete sie darauf, dass Angelo auf seinem Pferd das Tor passierte.
Ihr Vater hatte erschreckt die Augenbrauen hochgezogen, als er erfuhr, dass sein zukünftiger Schwiegersohn ausgerechnet Amarosa reiten sollte. Die Stute, die er selbst einerseits zwar für talentiert, andererseits aber für unberechenbar hielt. Und Filippo Morellis Reaktion hatte nicht gerade dazu beigetragen, dass Maria sich jetzt weniger um Angelo sorgte.
Als der Trommelwirbel das Erscheinen der Reiter ankündigte, herrschte erwartungsvolle Stille auf dem Platz. Alle sahen gebannt zu den Pferden und ihren Reitern, die bereits ihre Kostüme und zucchini, die in den Farben der Contraden bemalten Helme, trugen.
Fernando, der Jockey des Adlers, gehörte zu den Ersten, die den Palazzo verließen. Die Anhänger des aquila jubelten ihrem Helden zu und feuerten ihn an, sein Bestes zu geben.
Marias Herz schlug höher, als sie Angelo in dem grün-roten Kostüm des Drachen erblickte. Er saß auf einem hübschen Fuchs, dessen Nervosität nicht zu übersehen war. Wie von ihrem Vater vorausgesagt, hatte Angelo alle Hände voll damit zu tun, Amarosa zu bändigen.
»Da! Da ist er!« Das Mädchen neben Maria deutete mit ausgestrecktem Finger auf Angelo und stieß ihrer Freundin zugleich aufgeregt den Ellbogen in die Seite. »Sieht er nicht fantastisch aus?«
Maria musterte das Mädchen neben sich. Galt seine Begeisterung dem Pferd oder dessen Reiter? Es war vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt, hatte vor Aufregung gerötete Wangen und stieß jetzt beim Anblick seines Schwarms einen tiefen Seufzer aus.
In diesem Augenblick ritt Angelo auf seinem Weg zum Startpunkt am Fonte-Gaia-Brunnen dicht an ihnen vorbei und zwinkerte Maria zu.
Maria lächelte.
»Hast du das gesehen?«, sagte das Mädchen neben ihr mit sich überschlagender Stimme zu seiner Freundin. »Er hat mir zugezwinkert!«
Maria zog überrascht die Augenbrauen hoch. Noch einmal betrachtete sie das Mädchen. Diesmal genauer. Es war auffallend hübsch, mit großen, braunen Augen und glänzendem Haar strahlte es den ganzen Reiz seiner Jugend aus. Und war doch noch mehr Kind als Frau.
Ein schmerzender Stich bohrte sich in Marias Herz. Hatte Angelos Zwinkern wirklich ihr gegolten?
Vom Start bekam Maria von ihrer Position aus nicht viel mit. Doch sie konnte sich ausmalen, dass die Pferde unruhig waren und der mossiere, der Startrichter, alle Hände voll zu tun hatte, die Pferde ordnungsgemäß nebeneinander aufzureihen, denn es dauerte ausgesprochen lange, bis endlich der Böllerschuss ertönte, der den Zuschauern signalisierte, dass das Rennen begonnen hatte.
Es dauerte nur Sekunden, bis die Reiter um die erste Kurve preschten. Und Maria glaubte, ihren Augen nicht trauen zu können, als sie an erster Position Angelo ausmachte, dicht gefolgt von Fernando, der seinem Kontrahenten ordentlich zusetzte, indem er so nah neben Amarosa herritt, dass er ihr mit der Hand auf die Kruppe hätte schlagen können.
Maria war empört. Statt sich zu freuen, dass »ihr« fantino von Anfang an seine Position behauptete, spürte sie Wut über
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