Der dunkle Geist des Palio (German Edition)
antwortete Isabella. »Sie hat seit Tagen nichts gegessen und sitzt nur am Fenster und schaut hinaus.«
»Was erwartet sie denn, dort zu sehen?«
Isabella konnte ein leichtes Stirnrunzeln angesichts dieser aus ihren Augen völlig überflüssigen Frage nicht ganz unterdrücken. »Sie wartet auf ihren Verlobten, Herr. Auf Signore del Pianta.«
Signore Morelli grunzte ungehalten und ließ Isabella los. Raschen Schrittes entfernte sich das Dienstmädchen, während Morelli hinter seine Tochter trat und ihr eine Hand auf die Schulter legte. Doch nicht einmal diese unerwartete Berührung veranlasste Eva Maria, ihren Blick von den Wiesen, Feldern, Hügeln und Wäldern am Horizont abzuwenden.
»Eva«, sagte ihr Vater und seine Stimme klang ungewöhnlich sanft.
Mit leeren Augen wandte sie sich zu ihrem Vater um.
»Eva«, wiederholte Andrea Morelli, »du musst allmählich wieder zur Besinnung kommen.«
Eva Maria antwortete nicht.
Signore Morelli seufzte. »Er wird nicht zurückkehren.«
Eva Maria schwieg.
»Dieser Bastard ist froh, dass er einen Weg gefunden hat, sich seiner Verantwortung zu entziehen.«
Jetzt loderte ein kleines Feuer in Eva Marias sonst so abwesend blickenden Augen auf. Sie erhob sich und schaute ihrem Vater geradewegs ins Gesicht. »Wieso gebt Ihr ihm die Schuld? Ihr seid es doch gewesen, der ihn fortgetrieben hat! Ihr mit Euren Ränkespielen und …«
»Eva!« Die Stimme des Vaters nahm wieder ihren gewohnt harschen Ton an.
»Ich weiß, was man sich in der Stadt erzählt«, fuhr Eva Maria unbeirrt fort. »Wie viel hat es Euch gekostet? Was habt Ihr dem barbarasco gezahlt, damit er den Weg für Euren Handlanger freimacht?«
»Schweig!«, fuhr Signore Morelli seine Tochter an und seine Wangen färbten sich rot vor Zorn. »Nichts von dem, was du hier andeutest, wird sich jemals beweisen lassen!«
Eva Maria schüttelte den Kopf. »Ich brauche keine Beweise, um die Wahrheit zu erkennen.«
»Du gibst mir die Schuld für etwas, das du selbst zu verantworten hast. Aber ich werde dich dennoch nicht fallen lassen.« Signore Morelli seufzte, als fiele es ihm schwer weiterzusprechen. »Ich habe Vorkehrungen getroffen. Es gibt Möglichkeiten, deinen Fehltritt rückgängig zu machen. So könntest du noch einmal von vorne beginnen. Und wenn die Mitgift groß genug ausfällt …«
Eva Maria sog scharf die Luft ein. »Ihr wollt mich losschlagen wie ein Stück Vieh? Die Mitgift erhöhen, um den Makel der Braut auszugleichen?«
»Es wird keinen Makel geben.«
Eva Maria legte unwillkürlich eine Hand auf ihren Bauch. Und ihre Stimme klang schneidend: »Nein, Ihr habt recht, es gibt wahrhaftig keinen Makel. Nur einen Keim der Liebe in mir. Und niemals werde ich Euren Plänen zustimmen. Niemals!«
»Wenn das so ist«, antwortete ihr Vater, »dann kann ich nichts mehr für dich tun.«
»Nein«, sagte Eva Maria, »das könnt Ihr wohl nicht.« Und ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und starrte wieder aus dem Fenster, bis sie hörte, wie ihr Vater die Zimmertür hinter sich schloss.
Als die Sonne Stunden später hinter dem Horizont verschwand, saß Eva Maria immer noch am Fenster und blickte hinaus. Der Tag, der ihr schönster hatte werden sollen, neigte sich seinem Ende zu. Und anstatt wohlgemut in eine strahlende Zukunft zu blicken, saß sie alleine im Haus ihres Vaters und wog ihre Möglichkeiten ab.
Nein, verbesserte sich Eva Maria, allein war sie eben nicht. Und das veränderte vieles. Vielleicht sogar alles.
Ja, sie gab ihrem Vater die Schuld an den Geschehnissen. Und doch musste sie zugeben, dass Lorenzo sich auch anders hätte verhalten können. Ein Wort von ihm hätte genügt, und sie wäre ihm überallhin gefolgt. Bis ans Ende der Welt. War seine Liebe zu ihr nicht groß genug gewesen? Hatte ihr Vater am Ende recht und er hatte sie gar nicht gewollt? War er womöglich froh, seiner Verantwortung auf diese schäbige Weise zu entkommen?
Sie wandte sich um und betrachtete ihr Hochzeitskleid, das ausgebreitet auf ihrer Bettstatt lag. Es war weiß, wie es der neuen Mode entsprach. Und zeigte mit dieser Farbe nicht nur den sozialen Stand seiner Trägerin, sondern darüber hinaus ihre Unschuld.
Eva Maria lachte voller Bitternis bei diesem Gedanken. Wie lange würde sie ihr Geheimnis noch verbergen können? Und was würde geschehen, wenn ihr »Fehltritt«, wie ihr Vater es nannte, offensichtlich wurde? Die Worte Signore Morellis waren eindeutig gewesen: Wenn sie nicht bereit war, sich zu beugen
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