Der dunkle Geist des Palio (German Edition)
und die Folgen ihres Leichtsinns wegmachen zu lassen, dann hatte sie von ihrer Familie keinerlei Unterstützung zu erwarten. Nicht von ihrem Vater und ebenso wenig von ihrer Mutter, die es niemals gewagt hätte, gegen ihren Mann aufzubegehren. Mit Schimpf und Schande würde man sie davonjagen. Und wo sollte sie dann hin?
Eva Maria strich mit den Fingern über den weichen Stoff des Kleides, betrachtete den voluminösen Rock, das spitzengesäumte Dekolleté. Langsam, mit bedächtigen Bewegungen, begann sie, sich auszuziehen und ihre Wäsche säuberlich gefaltet auf das Bett zu legen. Als sie nur noch ihre Unterwäsche trug, griff sie nach dem Hochzeitskleid und stieg hinein. Es war nicht leicht, beinahe unmöglich, sich alleine anzukleiden. Aber schließlich hatte sie es doch geschafft, wenn auch nicht alle Haken am Rücken richtig geschlossen waren. Sie drehte und wendete sich, als tanze sie zu einer Musik, die nur in ihrem Kopf spielte. Eine Tänzerin, die sich in den Armen ihres Liebsten drehte.
Der lange Rock streifte über den Boden, als Eva Maria zu ihrem Platz am Fenster zurückkehrte und wieder hinaus in die nun dunkle Nacht blickte. Der Mond hatte seinen Platz am Himmelszelt eingenommen und obwohl er nur halb voll war, erleuchtete sein silberner Schein den Garten und tauchte ihn in ein geheimnisvolles Licht.
»Eva Maria Morelli. Eva Maria del Pianta.« Es war kaum mehr als ein Flüstern. Die junge Frau mit dem blassen Gesicht spürte dem Klang der beiden Namen lange nach. Dies also war der Tag gewesen, an dem sie zu Signora del Pianta hätte werden sollen. Aber nun saß sie immer noch als Signorina Morelli hier.
Die Seele kann nicht leben ohne Liebe, sie muss etwas lieben, sie ist aus Liebe geschaffen.
Eva Maria konnte sich im Augenblick nicht erinnern, woher diese Zeilen stammten, die ihr in den Sinn kamen. Aber sie spürte die Wahrheit, die darin steckte. Ihre Seele bestand aus Liebe. Aus Liebe zu ihrem ungeborenen Kind. Aus Liebe zu einem Mann, der sie im Stich gelassen hatte. Und aus dieser Liebe heraus hatte sie gesündigt, als sie dem Verlangen ihrer Seele nachgegeben hatte. Aber stand nicht in der Bibel: »Die Folge der Sünde ist der Tod«?
Eva Maria erhob sich wieder und trat zurück ins Dunkel des Zimmers. Mit langsamen Bewegungen zog sie das Laken von ihrem Bett und zerschnitt es mit der Dochtschere, die neben der brennenenden Kerze auf ihrem Nachttisch bereitlag, in drei Bahnen. Das war nicht einfach, denn die Dochtschere war ihrer bescheidenen Aufgabe entsprechend stumpf. Aber sie hatte Zeit. So viel Zeit.
Sie flocht die drei Bahnen zu einem festen Strang und während sie ihrer Arbeit im Schein der flackernden Kerze nachging, spürte sie, wie ihr Herz immer leichter wurde, während ihr Entschluss sich festigte: Sie würde ihr Kind behalten. Die Frucht ihrer Liebe würde auf immer und ewig mit ihr verbunden bleiben. Nichts würde sie trennen können. Nicht einmal der Tod.
Im Garten herrschte tiefe Stille. Nicht einmal ein Vogel zwitscherte in dieser Nacht. Alles schlief. Keiner bemerkte die Frau in dem weißen Kleid, die ohne jede Eile ihre Vorkehrungen traf. Niemand schaute aus dem Fenster des Flurs im ersten Stock des Palazzo.
Auch nicht, als der umgeworfene Schemel mit einem dumpfen Knall auf den Rasen prallte und der Ast, der unvermittelt ein Gewicht zu tragen hatte, leise knirschte.
Es war, als befände sie sich zugleich innerhalb und außerhalb ihres Körpers. Sie konnte alles sehen und zugleich alles fühlen.
So war es also, wenn man starb.
Eine Weile verharrte sie zwischen dem Reich der Lebenden und dem Reich der Toten. In ihren Gedanken war sie ganz bei ihrem Kind. Und bis ihre Kräfte nachließen und die Ohnmacht von ihr Besitz ergriff, hatte sie beide Hände schützend auf ihren Bauch gelegt. Dann entspannten sich ihre Gesichtszüge und ihre Arme fielen schlaff zur Seite.
Maria war schon oft in den letzten Tagen gefragt worden, ob sie es nicht bedauerte, von den Festlichkeiten, die auf den Palio folgten, nichts mitbekommen zu haben. Und sie hatte jedes Mal mit Nein geantwortet. Nein, sie bedauerte nicht, den Umzug des Siegers durch die Stadt verpasst zu haben.
Auf ihren Wegen ins Krankenhaus war sie mehrmals Feiernden begegnet, die zum Zeichen der Wiedergeburt ihrer Contrade einen Babyschnuller an ihren fazzoletti trugen. Und dabei hatte sie an die armen Verlierer denken müssen, die zur Verbüßung ihrer Schande abführendes Rhizinusöl zu sich nehmen mussten, um
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