Der dunkle Grenzbezirk
einem schäbigen Schild zu lesen war, Ein- und Zweizimmerwohnungen zu vermieten waren. Neben der Tür war eine Klingel, und als wir sie zogen, hörten wir irgendwo in der Ferne ein schwaches Klingeln.
Es verging ungefähr eine Minute, bevor die Türe von einer zirka fünfzigjährigen schlampig aussehenden Person geöffnet wurde. Offensichtlich hatte sie vergebens versucht, für den Anlaß ihr Corset zurechtzuziehen, denn sie hielt eine Hand merkwürdig über der Magengegend verkrampft.
»Tumachin?« fragte ich.
Die Tür schlug mir fast ins Gesicht. Mir schien, als hörte ich unmittelbar danach den Ton eines elektrischen Summers. Ich schaute Carruthers an. Der grinste.
»Man ist hier vorsichtig«, sagte er.
Wir warteten ein paar Sekunden. Als ich an der Fassade hochschaute, sah ich, wie ein Kopf hastig von einem Fenster zurückgezogen wurde. Wenig später wurde die Türe wieder geöffnet, diesmal von einem Mann. Er war klein, untersetzt und dunkelhaarig, und sein vorstehendes Kinn und seine Stirnfalten verliehen ihm ein ziemlich bärbeißiges Aussehen, so als sei er gerade dabei, eine sehr üble Tat zu begehen oder bereite sich auf eine vor. Seine braunen Augen starrten uns mißtrauisch an. Eine Hand steckte in der Tasche.
»Tumachin?« fragte ich wieder.
Er starrte uns nochmals durchdringend an und winkte uns dann, widerstrebend, wie mir schien, mit einem Kopfnicken herein. Als die Tür sich hinter uns schloß, zog er die Hand aus der Tasche, und bedeutete uns mit einem altmodischen vernickelten Revolver, die Treppe hinaufzugehen. Nachdem wir drei Stockwerke hochgestiegen waren, befahl er uns anzuhalten.
Wir standen auf einem schmalen Treppenabsatz. Er stieß eine Tür auf, hieß uns eintreten und schloß die Tür hinter sich zu. Wir waren in einem niedrigen Zimmer. Auf der einen Seite war ein Fenster, das von der Decke bis fast auf den Boden reichte. Ein Bett, ein Tisch, ein Waschbecken und einige Stühle bildeten das Mobiliar. Am Tisch saß, einen Revolver in der Hand, Tumachin.
Als wir näher traten, stand er auf. Dann erkannte er mich, legte den Revolver weg, kam auf mich zu und begrüßte mich höflich auf französisch. Ich stellte Carruthers vor. Seine Augen funkelten, aber er zögerte nur einen winzigen Moment, bevor er uns bat, Platz zu nehmen. Sein ernstes Gesicht verriet nichts von der Neugierde und Unsicherheit, die er empfunden haben mußte.
»Wir kommen«, begann ich, »als Freunde von Andrassin.«
»Wie haben Sie erfahren, wo ich wohne?«
»Von einem Freund von Andrassin. Ich werde es Ihnen gleich erklären.«
Er nickte. »Andrassin hat mir viel von Ihnen erzählt. Aber dieser Mann« – er zeigte auf Carruthers – »ist kein Freund, sondern ein Geschäftsfreund von Groom, dem Waffenhändler.«
Ich nickte.
»Monsieur Casey«, fuhr er in sachlichem Ton fort, »wenn dieser Besuch eine Indiskretion ist, dann werden Sie, so leid es mir tut, dieses Zimmer nicht lebend verlassen.«
»Er ist keine Indiskretion, Monsieur.«
»Nun, Monsieur, das werden wir ja sehen.«
»Vielleicht sollten wir Monsieur Tumachin erklären, warum wir hier sind«, warf Carruthers ein.
Tumachin nickte. »Das wäre sicher das Gescheiteste.«
»Wir sind zu Ihnen gekommen, Tumachin«, begann ich, »weil wir erstens glauben, daß Sie über einiges, das wir Ihnen zu erzählen haben, schon informiert sind. Zweitens, weil wir glauben, daß wir Ihnen helfen können, und drittens, weil wir Hilfe brauchen. Ich nehme an, daß Sie genug über mich wissen, um mir zu glauben, wenn ich sage, daß wir uns an Andrassin gewandt hätten, wenn er noch am Leben wäre. Nun wenden wir uns an Sie, als seinen Freund und Nachfolger.«
Ich hatte mir die paar Sätze genau überlegt. Ich beabsichtigte, seine unzweifelhafte große Zuneigung zu Andrassin ins Spiel zu bringen. Er sprang auf und ging zum andern Ende des Zimmers. Als er sich uns wieder zuwandte, sah ich Tränen in seinen braunen Augen.
»Selbst jetzt«, sagte er ruhig, »wo Andrassins Körper kalt ist, und seine Freunde es nicht wagen, zu seinem verstümmelten Leichnam zu gehen, aus Furcht, das gleiche Schicksal zu erleiden, kann ich nicht glauben, daß er tot ist. Und für mich wird er auch nie sterben. Alles Gute unserer Partei stammt von ihm, ist von seinem Geist inspiriert. Diejenigen, die an seinem Tod schuld sind, werden mit jedem Tropfen ihres Blutes zahlen.«
Den letzten Satz hatte er mit lauter, vor Empörung zitternder Stimme gesprochen. Der Kontrast zur vorherigen
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