Der dunkle Herzog
nach Schottland fahren«, sagte Eleanor. »Jetzt. Erinnerst du dich?«
Ian ging zur Treppe. »Nein, du wirst hier in London bleiben, bis wir nach Berkshire reisen. Wir alle. Wir fahren jedes Jahr dorthin.«
Hart, schwer atmend, beobachtete seinen Bruder, der die Treppe hinaufging. »Dieses Jahr wird es anders sein, Ian. Ich versuche, eine Wahl zu erzwingen.«
»Tu es von Berkshire aus«, sagte Ian und verschwand im Korridor.
»Das klingt doch nach einem vernünftigen Arrangement«, stellte Alec Ramsay mit gewohnt guter Laune fest. »Franklin, schaffen Sie unser Gepäck wieder nach oben, zu dem famosen Burschen.«
Franklin murmelte: »Ja, Eure Lordschaft«, ergriff so viele Gepäckstücke, wie seine jungen Arme tragen konnten, und eilte die Treppe hinauf.
»Mylady?« Eines der Hausmädchen trat zu Eleanor. Es wirkte sehr ruhig, als hätten Eleanor und Hart nicht mitten in der Eingangshalle zu streiten begonnen. »Der Brief ist für Sie gekommen. Der Botenjunge hat ihn mir gegeben.«
Eleanor dankte und nahm den Brief entgegen. Es gelang ihr, sich so weit zu beherrschen, ihn dem Mädchen nicht aus der Hand zu reißen. Sie war sich Harts Atem an ihrer Wange bewusst, als sie den Umschlag herumdrehte.
An Lady Eleanor Ramsay, zurzeit Grosvenor Square, Nummer 8.
Dieselbe Handschrift, das gleiche Papier.
Eleanor drängte sich an Hart vorbei und durch das Vestibül, ehe er sie aufhalten konnte, und lief hinaus in einen kalten Wind. Sie schaute die Straße entlang und hoffte, den Botenjungen einholen zu können, aber er war bereits im morgendlichen Straßengewühl verschwunden.
Eine Stunde später machte sich Eleanor auf die Suche nach Ian und fand ihn in Harts Arbeitszimmer. Hart hatte das Haus bereits verlassen, nachdem er Marcel angeraunzt hatte, er solle ihn gefälligst gesellschaftsfähig machen, ehe er sich auf den Weg in seinen Club oder nach Whitehall machte.
Ian saß am Schreibtisch und schrieb etwas. Er sah nicht auf, als Eleanor eintrat. Seine große Gestalt füllte den Stuhl, sein Kilt bedeckte seine muskulösen Beine. Auf der anderen Seite des Zimmers lag ausgestreckt auf einem Sofa sein Kammerdiener Curry und schnarchte.
Ian hob auch nicht den Kopf, als Eleanor zum Schreibtisch trat. Sein Federhalter bewegte sich weiter über das Papier, rasch, gleichmäßig, unaufhörlich. Als Eleanor nah genug herangekommen war, sah sie, dass er keine Worte schrieb, sondern in Spalten getrennte Zahlenreihen. Er hatte bereits zwei Blätter mit diesen Zahlenkolonnen bedeckt, füllte einen dritten Bogen bis zum Ende und begann mit dem vierten.
»Ian«, sagte Eleanor. »Ich bitte um Entschuldigung für die Störung …«
Ian fuhr fort zu schreiben, seine Lippen bewegten sich, während seine Feder über das Papier flog.
»Ian?«
Curry gähnte, nahm den Arm herunter, den er sich über die Augen gelegt hatte, und setzte sich auf. »Geben Sie es auf, Eure Ladyschaft. Wenn er erst mal mit den Zahlen anfängt, kann man nicht mit ihm reden, bis er fertig ist. Fibrichis Zahlen oder so etwas.«
»Fibonacci-Zahlen«, korrigierte Ian ihn, ohne aufzusehen. »Das ist eine rekursive Folge, die ich mir denke. Dies hier ist keine.«
Eleanor zog sich einen Stuhl mit hoher gerader Lehne zum Schreibtisch. »Ian, ich muss dich um einen großen Gefallen bitten.«
Ian schrieb noch mehr Zahlen nieder, sein Federhalter bewegte sich stetig, ohne Pause. »Beth ist nicht hier.«
»Das weiß ich. Sie könnte mir in dieser Angelegenheit ohnehin nicht helfen. Du musst mir diesen Gefallen tun.«
Ian schaute auf, seine Augenbrauen zogen sich zusammen. »Ich schreibe Beth einen Brief, weil sie nicht hier ist.« Er sprach sehr akzentuiert – ein Mann, der das Offensichtliche jenen erklärte, die zu langsam waren, seinen Gedanken zu folgen. »Ich teile ihr mit, dass ich wohlbehalten angekommen bin und dass mein Bruder noch immer ein Arschloch ist.«
Eleanor verbarg ihr Lächeln über die letzte Bemerkung und tippte auf das Papier. »Einen Brief? Aber das hier sind nur Zahlen.«
»Das weiß ich.«
Ian tauchte seinen Federhalter erneut ein, beugte den Kopf über das Papier und widmete sich wieder seinem Schreiben. Eleanor wartete und hoffte darauf, dass er bald fertig sein und wieder aufschauen würde, aber er tat es nicht.
Curry räusperte sich. »Pardon, Eure Ladyschaft. Wenn er so mit etwas beschäftigt ist wie jetzt, kommen Sie bei ihm nicht weiter.«
Ian hörte nicht auf zu schreiben. »Halt den Mund, Curry.«
Curry kicherte.
Weitere Kostenlose Bücher