Der dunkle Kuss der Sterne
Aber du hoffst, ihn zu finden.«
»Ihr selbst habt vor Gericht gesagt, dass Ihr Euch vorstellen könnt, er sei das Opfer eines Verbrechens geworden.«
Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Das war, bevor wir wussten, was mit dir geschehen ist. Das verändert alles. Alles.« Es klang traurig und ich wagte nicht, nachzufragen, während sie auf die Kerze starrte. »Armes Kind. Und du glaubst immer noch an seine Unschuld.«
»Was meint Ihr damit?«
Die Mégana zögerte, als hätte sie zu viel gesagt. »Der Mégan würde nicht billigen, was ich hier tue«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu mir. »Aber an deiner Stelle würde ich auch wissen wollen, was geschehen ist, so schrecklich es auch ist. Und ich glaube, du bist immer noch stark genug, um es zu ertragen. Komm zur Flamme!«
Sie betrat die kleine, zitternde Insel aus Helligkeit. Ich humpelte ebenfalls zur Kerze. Irgendwo in der Ferne echote ein Hall, vielleicht eine Tür, die zuschlug. Die Mégana lauschte einen angespannten Moment, und mir wurde klar, dass sie tatsächlich heimlich hier war und jede Minute zählte. Wann würde der Mégan spüren, dass seine andere Hälfte ihm nicht nahe war?
»Ich habe nicht viel Zeit, Canda. Du weißt doch noch, was man dir über die Gaben beigebracht hat?«
Seltsamerweise kam mir als Erstes die alte Legende in den Sinn, die manche Ammen ihren Schützlingen erzählten, wenn diese noch an eine verborgene Welt voller Magie glaubten. Von geisterhaften Wesen, die uns von Geburt an begleiteten und uns mit Gaben beschenkten. Aber die abergläubische Zeit der Ammenmärchen war für mich längst vorbei.
»Sie sind die Pfeiler unserer Macht«, antwortete ich. »Jeder Höchstgeborene besitzt sie. Die, die vom Schicksal besonders beschenkt wurden, haben vier Gaben, wie Tian und ich. Früher, in den Anfangszeiten, hatte jeder vier, aber diese Statistik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten geändert. Seit fünfzehn Jahren werden die meisten der Höchsten und Hohen mit zwei, höchstens drei Gaben geboren. Es gibt Missgeburten, die nur eine besitzen, aber selbst eine einzelne ist und bleibt das Merkmal der hohen Geburt. Sie erhebt uns über die gewöhnlichen Menschen und die Barbaren außerhalb der Stadt.«
»Ja, sie sind unser wertvollstes Gut. Und was wertvoll ist, ist in Gefahr, missbraucht oder zerstört zu werden. Früher, lange vor dem großen Chaos, schadeten Menschen einander, indem sie die Talente ihrer Gegner zerstörten. Nimm einem feindlichen Befehlshaber seine Gabe, strategisch zu denken, und du wirst ihn besiegen.«
»Wie soll das möglich sein?«
»Unsere Ahnen beherrschten die Kriegskunst, ihre Feinde auf diese Weise zu schwächen. Die Dokumente über solche Verbrechen sind nach der Neuordnung vernichtet worden. Noch zu Zeiten meines Großvaters wäre für ein solches Verbrechen die ganze Sippe des Täters ausgelöscht worden. Heute ist das Geheimnis verloren, niemand kann mehr auf die Gaben von anderen Menschen zugreifen. Es gibt nur eine einzige Ausnahme: In einer Zweiheit kann es geschehen – wie man an dir sieht. Deine vierte und größte Gabe wurde ausgelöscht. Für immer.« Das zu hören, fühlte sich immer noch an wie ein Schlag in den Magen. Ihre Stimme bekam einen dunkleren, weicheren Klang, wie die einer Mutter, die ihr Kind tröstet. »Das ist die Schattenseite der Liebe, Canda: Diejenigen, die wir am meisten lieben, haben leider auch die Macht, uns am schlimmsten zu verletzen.«
»Tian soll mir das angetan haben?« Es war so abwegig, dass ich nicht einmal zornig werden konnte.
»Wer sonst, Canda? Wir sind mächtiger als die gewöhnlichen Menschen. Ghan herrscht über die Wüste, die Berge, die Küste und alle ihre Schätze. Wir haben die besten Söldner aus allen Ländern, keiner unseres eigenen Blutes muss sein Leben noch für unsere Siege opfern. Herrscher fremder Länder kaufen unseren Rat und Strategien und bezahlen ihr Leben lang in Gold dafür. Wir sind unbesiegbar, aber dort, wo wir lieben, sind wir auch verletzlicher, denn anders als die Gewöhnlichen haben wir als Zweiheiten Zugang zum Geist unseres Partners.«
Ich trat einen Schritt zurück, riss mich los von ihrer Sanftheit. »Er war es nicht!«
»Aber wer sollte es sonst gewesen sein, Canda?«
»Ich weiß es nicht … Spione, Feinde der Stadt, Verschwörer …« Auf meiner Haut konnte ich den kalten Aquamarinblick des Jägers spüren. In seiner Haltung lag eine Spannung, die mich beunruhigte. Warum darf er hier sein? Warum hört ein
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