Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
Vom Netzwerk:
Gewicht schob mich weiter, unaufhaltsam. Ein letzter Windstoß, ein Kippen – und alles kehrte sich um. Der Sog der Tiefe riss uns steil nach unten. Keine Luft mehr in der Lunge, kein Halt. Meine Füße schlugen verzweifelt ins Nichts, als gäbe es immer noch eine Chance, Halt zu finden. Fels und Himmel wechselten rasend schnell wie Blitzlichtaufnahmen. Zehntelsekunden Ewigkeiten, während meine Gedanken sich überschlugen. Wie lange werde ich fallen? Werde ich den Aufprall spüren? Bitte lass mich nicht leiden, bitte …
    Ein Ruck ließ mich aufkeuchen. Amads Arme lagen wie Eisenklammern um meinen Körper. Benommen rang ich nach Atem. Wir fielen nicht mehr! Die Zeit hatte angehalten, wir waren in der Luft erstarrt, nein, wir hingen – an Amads dünnem Seil über der Unendlichkeit und drehten uns. Über uns kreiselte der Sturmhimmel.
    »Lass mich los!«, schrie Amad mir zu.
    »Nein!« Mein Schrei gellte so schrill wie ein Falkenruf in der Schlucht.
    Amad lockerte seinen Griff! Ich sackte nach unten, mein Bauch ein einziger kochender See aus Entsetzen. »Bist du verrückt?«, kreischte ich.
    Amad griff mit einer Hand zu dem Rucksack, zog ihn von seiner rechten Schulter herunter und warf ihn in die Tiefe. Und dann … ließ er mich ganz los!
    Ich sackte noch tiefer, klammerte mich an ihn, umschlang seine Beine mit meinen. Unter mir gähnte das Tal wie ein gieriger Schlund.
    »Spring endlich!«, brüllte er. »Vertrau mir!«
    Lieber sterbe ich , schrie eine panische Stimme in meinem Kopf. Ach nein: Ich sterbe ja sowieso!
    Amad fluchte, zückte sein Messer und – kappte das Seil über seinem Kopf, das uns beide hielt, mit einem entschiedenen Ruck.
    Mein Schrei schien zurückzubleiben, während die Zeit weiterraste und einen Schwarm elektrischer Motten in meinem Bauch aufscheuchte. Ich presste die Lider zusammen. Das war’s – wie viele Sekunden falle ich? Wie viele Sekunden dauert der Schmerz, wie viele …
    Etwas krachte, ein Ruck brachte uns ins Trudeln wie Stoffpuppen im Orkan. Und dann: ein anderes, dunkleres Rot hinter meinen Lidern, Amad, der mich noch im Fallen grob von sich stieß, schwebende Ewigkeiten in kompletter Orientierungslosigkeit und dann: ein mörderischer Aufschlag, der meinen Körper zusammendrückte, als wäre ich viermal so schwer. Sinken und Zurückfedern in einer Staubwolke, die nach Fischgräten und Salz roch und fernes Winseln, das in meinem Kopf zu absoluter Stille verhallte.
    *
    Eine kalte Hand strich über meine Stirn. Also bin ich nicht tot? , dachte ich benommen. Irgendwo über mir heulte der Sturm noch mit derselben Wut, aber hier war es windstill. Meine Finger waren verhakt in dicke Schnüre und immer noch roch es nach fauligem Trockenfisch. Vorsichtig öffnete ich die Augen. Über mir war ein Auge aus Sturm und schwarzen Wolken. Umrahmt wurde es von verstaubten Mosaiken, die geometrischen Muster konnte man noch erahnen, Rauten und Kreise. Ein Kuppeldach? Aber da war kein Gebäude …
    Doch es gab keinen Zweifel: Über mir gähnte ein Sprengloch. Und fünf Meter über diesem Loch schwang das abgeschnittene Seilende im Wind und schlug gegen Felsen. Komischerweise rieselte kein Staub durch die Öffnung, fegte kein Wind hindurch. Als sei der Sturm tatsächlich ein Raubtier, das da oben immer noch unsere Fährte sucht. Aber wohin haben wir uns geflüchtet ? Mein Herz raste, aber alles in mir war so taub und fremd, als wäre ich gar nicht in meinem Körper. Benommen wandte ich den Kopf. Amad kniete neben mir, jetzt zog er die Hand zurück, als hätte ich ihn ertappt. Neue Kratzer an seinem Unterarm? , dachte ich verwundert. Nicht von mir. So dünne Krallen habe ich nicht. Von mir stammen die Abdrücke der Fingernägel.
    »Nichts gebrochen?«, fragte er heiser.
    Mir wurde schwindelig, als ich mich benommen aufsetzte. Kein Knochen schien am richtigen Platz zu sein, aber ich konnte mich bewegen.
    »Nein.« Es war, als würde jemand anderes mit meiner Stimme sprechen, während ich neben mir stand und mich selbst beobachtete. Schock , dachte ich. Nur der Schock. Werde nicht ohnmächtig!
    »Glück gehabt.« Amad sah zu dem Loch hoch, fluchte wieder in seiner fremden Sprache und stand auf.
    Ich setzte mich auf. »He! Moment! Wo sind wir hier? Wo kommt das alles her? Da war doch nur der Abgrund.«
    Amad wandte sich wieder zu mir um. Die Graue humpelte schwanzwedelnd auf ihn zu und er streichelte ihr den Kopf. Seine Hand zitterte ein wenig. Jetzt erst fiel mir auf, dass er aschgrau im Gesicht

Weitere Kostenlose Bücher