Der dunkle Ritter (German Edition)
grausamer Menschenfresser?«
»Ich denke, das war er zu seiner Zeit. Aber so königlich diese Bestie auch gewesen sein mochte, jetzt war sie alt und müde. Ohne Zweifel war das der einzige Grund dafür, dass es uns gelungen war, sie auf die Weise zu fangen, wie wir es getan haben. Wir hielten den Löwen im Käfig in der Mitte des Lagers, während wir um das Feuer saßen und unsere Abendmahlzeit einnahmen. Die ganze Zeit saß er einfach da, beobachtete uns, das edle Haupt erhoben, seine Augen durchdringend und irisierend funkelnd im Feuerschein.
Einige Stunden später, als wir alle voll des Weines waren und uns gegenseitig zu langweilen begannen, stand einer der Männer auf, weil er beschlossen hatte, dass er das große Biest brüllen hören wollte. Er ging zum Käfig und zog sein Schwert, strich damit über die Gitterstäbe und steckte es in den Käfig, um den Löwen zu reizen, danach zu schlagen.«
»Ist es ihm gelungen, Mylord?«, fragte Wat mit einem Keuchen. »Hat er nach dem Mann geschlagen?«
»Nein, das hat er nicht«, entgegnete Cabal nachdenklich. »Der Löwe ist der Klinge ausgewichen und hat sich in die Ecken seiner Zelle zurückgezogen, aber der Soldat wollte nicht aufhören, ihn herauszufordern. Es dauerte nicht lange, und andere Männer schlossen sich ihrem Kameraden an, sie alle schrien und schlugen mit ihren Schwertern gegen die Gitterstäbe. Trotz allem blieb der Löwe ruhig. Gleichgültig.
Er blutete aus einem Schnitt in seiner Flanke, er fauchte und war ängstlich, aber er schlug nicht zurück.« Cabals Stimme war nachdenklich geworden, klang fast gequält. »Er hätte leicht einen der Männer töten können; sie alle waren leichtsinnig und viel zu nah an den Gitterstäben, aber der Löwe schien kein Interesse daran zu haben, ihr Blut zu vergießen.«
»Also war er doch kein Menschenfresser, Mylord?«, rief einer der Zuhörer.
Cabal schüttelte den Kopf. »Dass er Würde besaß, war unbestritten, aber die Tage das Kämpfens waren für das Tier lange vorbei. Als der Löwe sich nicht rührte, wurden die Männer ihres Treibens müde. Jemand schlug vor, dem König die Ehre zu überlassen, das Tier zu töten, wenn er am nächsten Morgen ins Lager zurückkehren würde, und die anderen stimmten ihm rasch zu. Man war sich einig, dass der Kopf des Löwen eine bessere Trophäe abgeben würde als die jämmerliche Kreatur an sich.«
Emmalyn zog sich aus Mitgefühl und Furcht der Magen zusammen, und sie wollte fragen, ob es denn auch so geschehen sei, ob König Richard das Tier tatsächlich übergeben worden sei, um es kaltblütig zu töten. Im nächsten Augenblick stellte schon jemand anders diese Frage für sie.
»Nun, das ist jetzt die Stelle, an der die Magie ins Spiel kommt«, entgegnete Cabal. »Denn während in jener Nacht alle im Lager schliefen, geschah etwas Bemerkenswertes und Unerklärliches. Als wir am nächsten Morgen wach wurden, fanden wir den Käfig zwar verschlossen, aber er war leer. Der Löwe war spurlos verschwunden.«
Ein Schwarm von Fragen stieg aus der Menge auf. »Waren denn vor dem Käfig keine Spuren zu sehen, Sir Cabal? Und was war mit dem Käfig? Hatte der Löwe die Stäbe zertrümmert und war so entkommen?«
»Es wurden keine Pfotenabdrücke gefunden«, erwiderte Cabal. »Der Käfig war vollkommen intakt, und der Gefängniswärter trug die Schlüssel noch um seinen Hals, genau so, wie er sie um den Hals getragen hatte, als er in der Nacht eingeschlafen war.«
Ein Murmeln der Ehrfurcht ging durch die Leute. Dann fragte jemand: »War der König zornig, dass sein Geschenk verschwunden war?«
Cabal schmunzelte. »Als er die Geschichte von der leichten Gefangennahme des Löwen und dem darauf folgenden Verschwinden aus einem versperrten Käfig hörte, lachte der König. Er hielt es für einen Scherz. Entweder das, sagte er, oder eine Illusion, die alle aufgrund der Wüstenhitze und der großen Mengen starken sarazenischen Weins ergriffen hatte.« Cabal blickte in den Kreis seiner Zuhörer, ein hintergründiges, neckendes Funkeln stahl sich in seine Augen. Dann zuckte er die Achseln. »Aber wer kann das schon sagen, nicht wahr? Vielleicht war es letztlich wirklich nichts anderes als das.«
»Oh«, riefen viele aus der Menge, die offensichtlich vermuteten, dass man ihnen einen Bären aufgebunden hatte. Einige begannen davonzugehen, sie scherzten und lachten gutmütig darüber, von Cabal und seiner Lügengeschichte zum Narren gehalten worden zu sein.
Nachdem die Menge sich
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