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Der dunkle Schirm

Der dunkle Schirm

Titel: Der dunkle Schirm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip K. Dick
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Weg laufen würden.
    »Die sitzen gerade sechs Monate wegen Rauschgiftbesitz ab. Die Kleine hat sich auf dem Strich den Tripper geholt, ohne es überhaupt zu merken. Er hat sich in ihr hochgefressen… na ja, Sie wissen ja, wie das bei Trippern so geht. Ihre Brüder fanden das lustig.«
    »Nette Jungs.«
    »Ich will Ihnen mal 'ne Geschichte erzählen, die Ihnen bestimmt an die Nieren geht. Da waren diese drei Babys drüben im Fairfield-Krankenhaus, denen sie jeden Tag eine Dosis geben mussten, weil sie noch zu klein waren, um einen Entzug durchstehen zu können. Und eine Krankenschwester hat versucht…«
    »Sie haben Recht – das geht mir an die Nieren«, sagte Fred mit seiner monotonen Maschinenstimme. »Ich habe genug gehört, vielen Dank.«
    Hank fuhr fort: »Wenn man sich überlegt, dass neugeborene Babys heroinsüchtig sind, weil…«
    »Schon gut.«
    »Was sollte man Ihrer Meinung nach mit einer Mutter tun, die einem neugeborenen Baby Heroin setzt, damit es nicht mehr weint? Sie eine Nacht lang ins Gefängnis sperren?«
    »Etwas in der Art. Vielleicht ein Wochenende lang, wie’s mit den Säufern gemacht wird… Manchmal wünsche ich mir, dass ich wüsste, wie man vor Wut durchdreht. Ich hab vergessen, wie das geht.«
    »Ja, das ist eine verloren gegangene Kunst. Vielleicht existiert irgendwo noch ein Handbuch dafür.«
    »So um 1970 rum gab’s einen Streifen, French Connection, der handelte von einem Zwei-Mann-Team vom Rauschgiftdezernat. Als die sich mal selbst einen Schuss setzten, klinkte der eine von ihnen total aus und erschoss jeden, der ihm vor die Flinte kam, seine Vorgesetzten eingeschlossen. Dem Typen war das alles ganz egal.«
    »Dann ist es vielleicht gar nicht so schlecht, dass Sie nicht wissen, wer ich bin. Sie könnten mich also höchstens rein zufällig erwischen.«
    »Irgendjemand wird uns sowieso alle irgendwann einmal erwischen.«
    »Und das wird eine Erlösung sein. Eine wirkliche Erlösung.« Hank wühlte sich noch tiefer in den Stapel mit Aufzeichnungen. »Jerry Fabin. Den können wir wohl endgültig von der Liste streichen. Die Jungs unten im Büro sagen, er habe den zuständigen Beamten auf der Fahrt zur Klinik erzählt, ein angeheuerter Killer – ein kleines Männchen ohne Beine, so ungefähr neunzig Zentimeter groß – sei Tag und Nacht auf einem Wägelchen hinter ihm hergerollt. Aber er hätte niemandem was davon erzählt, weil ihn sonst alle für übergeschnappt gehalten und sich schleunigst aus dem Staub gemacht hätten, und dann hätte er ja gar keine Freunde mehr gehabt, niemanden, mit dem er hätte sprechen können.«
    »Ja, Fabin ist weg vom Fenster. Ich habe die EEG-Analyse aus der Klinik gelesen. Den können wir vergessen.«
    Immer, wenn Fred Hank so gegenübersaß und seine Rapportnummer abzog, spürte er eine tief greifende Verwandlung seines innersten Selbst. Normalerweise wurde ihm diese Verwandlung erst danach bewusst, obwohl er schon während des Rapports selbst merkte, dass er aus einem bestimmten Grund eine geschäftsmäßige und unbeteiligte Haltung einnahm. Ganz gleich, was in diesem Raum besprochen wurde, um wen sich das Gespräch auch immer drehen mochte – all das hatte für ihn während der Zusammenkunft keinerlei gefühlsmäßige Bedeutung.
    Zuerst hatte er geglaubt, das rühre von den Jedermann-Anzügen her, die sie trugen; sie konnten beide die körperliche Nähe ihres jeweiligen Gegenübers nicht spüren. Später kam er jedoch zu dem Schluss, dass es letztlich keinen Unterschied machte, ob sie die Anzüge trugen oder nicht – es lag an der Situation selbst. Aus beruflichen Gründen unterdrückte Hank absichtlich die menschliche Wärme und die verschiedenen Gefühle, die zuweilen aufzukommen drohten. Weder Zorn noch Liebe noch andere tiefer gehende Emotionen würden ihnen helfen. Was nützte es, ihrer persönlichen Betroffenheit freien Lauf zu lassen, wenn sie über Verbrechen – über Kapitalverbrechen – redeten, von Personen begangen, die Fred nahe standen, sehr nahe sogar, wie im Falle von Luckman und Donna? Nein, sie mussten ihre Gefühle ausklammern. Und das taten sie auch, er noch mehr als Hank. Sie wurden neutral; sie sprachen in einem neutralen Tonfall; sie sahen neutral aus. Und mit der Zeit wurde es immer einfacher, die eigenen Empfindungen zu unterdrücken, selbst ohne vorherige Einstimmung.
    Nur danach sickerten all die Gefühle wieder in ihn zurück.
    Entrüstung angesichts der Geschehnisse, die er hatte mit ansehen müssen.

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