Der dunkle Schirm
Anzugtaschen darunter. Vielleicht war das der Grund dafür, warum Paulus in den späteren Jahren seines Lebens dauernd im Gefängnis saß. Sie haben ihn deswegen reingesteckt.
Auf solche beschissenen Trips wird man ausgerechnet immer dann geschickt, wenn sowieso schon alles schief-läuft, dachte er, als er die Cafeteria verließ. Erst diese ganzen Tiefschläge, und dann knallt einem so eine Puppe glatt noch mal einen vor den Latz. Als ob die gebauten Weisheiten dieser Psychologen-Macker, die sich für un-fehlbarer als der Papst halten, nicht schon ausreichen würden. Anscheinend nicht. Scheiße, dachte er. Er fühlte sich jetzt sogar noch schlechter als vorher; er konnte kaum noch gehen, kaum noch denken; sein Gehirn
summte, so durcheinander war er. Durcheinander und
verzweifelt. Jedenfalls, dachte er, bringt’s Odol nicht; 374
Lavons ist besser. Außer, daß es, wenn du’s wieder aus-spuckst, so aussieht, als würdest du Blut spucken. Vielleicht Micrin, dachte er. Das könnte das Richtige sein.
Wenn es in diesem Gebäude einen Drugstore gäbe,
dachte er, könnte ich mir eine Flasche kaufen und das Zeug anwenden, bevor ich raufgehe, um Hank gegenü-
berzutreten. Und dann – dann würde ich vielleicht selbst-sicherer auftreten können. Vielleicht würde ich eine bessere Chance haben.
Ich könnte jetzt alles gebrauchen, überlegte er, was mir irgendwie helfen könnte. Ganz egal, was. Jeden Fin-gerzeig, wie den, den mir dieses Mädchen gegeben hat.
Jeden guten Rat. Er fühlte sich niedergeschlagen und ängstlich. Scheiße, dachte er, was soll ich bloß machen?
Wenn ich von allem runter bin, dachte er, dann werde ich keinen von ihnen mehr wiedersehen, keinen meiner Freunde, der Leute, die ich beobachtet und gekannt habe.
Ich werde endgültig draußen sein; ich werde vielleicht für den Rest meines Lebens außer Dienst sein. Auf jeden Fall werde ich sie nie wieder zu Gesicht kriegen, weder Arctor noch Luckman noch Jerry Fabin noch Charles
Freck. Und, was am schlimmsten ist. auch Donna
Hawthorne nicht. Ich werde keinen meiner Freunde wiedersehen, für den Rest der Ewigkeit. Es ist aus.
Donna. Dun fiel ein Lied ein, das sein Großonkel vor Jahren zu singen pflegte, in Deutsch.
»Ich seh’, wie ein Engel im rosigen Duft
Sich tröstend zur Seite mir stellet. «*
* Anm. d. Übers.: Im Original zuerst in Deutsch und dann in Englisch.
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Sein Großonkel hatte ihm die Zeilen übersetzt und ihm erklärt, mit dem Engel sei die Frau gemeint, die er liebte, die Frau, die ihn rettete (im Lied). Im Lied, nicht im wirklichen Leben. Jetzt war sein Großonkel schon tot, und es war lange her, daß er jene Worte gehört hatte. Die Stimme seines in Deutschland geborenen Großonkels,
der im Haus sang oder laut las.
Gott! Welch Dunkel hier! O grauenvolle Stille!
Öd’ ist es um mich her. Nichts lebet außer mir…**
Selbst wenn mein Gehirn nicht ausgebrannt ist, begriff er, wenn ich später wieder im Dienst sein werde, wird jemand anders zu ihrer Überwachung eingesetzt worden sein. Oder sie werden tot sein oder im Knast oder in Staatlichen Nervenkliniken oder einfach nur in alle Winde verstreut, verstreut, verstreut. Ausgebrannt und zerstört, so wie ich, unfähig, herauszuknobeln, was zum Teufel eigentlich läuft. Für mich ist alles irgendwie an einem Endpunkt angekommen. Ich habe, ohne es zu wissen, längst adieu gesagt.
Alles, was ich irgendwann tun könnte, dachte er, ist, die Holo-Bänder wieder abzuspielen, um mich an sie zu erinnern.
»Ich sollte ins Kontroll-Zentrum gehen …« Er blickte um sich und verstummte. Ich sollte ins Kontroll-Zentrum gehen und die Bänder jetzt klauen, dachte er. Solange ich noch dazu in der Lage bin. Später mögen sie gelöscht werden, und später werde ich sowieso keinen Zugang
mehr zu ihnen haben. Scheiß was auf die Abteilung,
dachte er; sie können die Materialkosten ja mit meinem ausstehenden Gehalt verrechnen. Aufgrund jeder ethi-376
schen Erwägung gehören mir die Bänder von jenem Haus und den Leuten darin. Und jetzt, jetzt sind diese Bänder alles, was ich von all dem übrigbehalten habe; das ist alles, was ich mitzunehmen hoffen kann.
Aber zum Abspielen der Bänder, dachte er gehetzt,
brauche ich auch das komplette holografische Projekti-onssystem aus dem Kontroll-Zentrum. Ich werde es de-montieren und Stück für Stück wegkarren müssen. Die Kameras und die Aufzeichnungskomponenten werde ich
ja nicht benötigen – nur die Abspielvorrichtung und die
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