Der dunkle Schirm
lauschte. »Nachdem er Gott gesehen hatte, fühlte er sich richtig gut, so ungefähr ein Jahr lang. Und dann fühlte er sich richtig mies. Mieser, als er sich je zuvor in seinem Leben gefühlt hatte. Weil er eines Tages schlagartig kapierte, daß er Gott nie wieder sehen würde; er würde für den Rest seines Lebens –
Jahrzehnte, fünfzig Jahre vielleicht – dahinvegetieren und nichts außer dem sehen, was er schon immer gesehen hatte. Das, was auch wir sehen. Er war schlechter dran, als wenn er Gott nicht gesehen hätte. Er erzählte mir spä-
ter mal, daß er daraufhin richtig durchgedreht wäre; er flippte einfach aus und fing an zu fluchen und zerdepper-te alle möglichen Sachen in seinem Apartment. Er zer-schlug sogar seine Stereoanlage. Er hatte begriffen, daß er für alle Zeit so würde weiterleben müssen, wie er jetzt lebte – nämlich ohne etwas zu sehen. Ohne jeden Sinn.
Einfach nur ein Fetzen Fleisch, der sich dahinquält, ißt, trinkt, schläft, arbeitet und scheißt.«
»Wie wir anderen auch.« Es war das erste, was Bob
Arctor zu sagen fertiggebracht hatte; die Worte kamen 396
heraus, als müsse er jedes einzelne von ihnen unter gro-
ßen Schwierigkeiten erbrechen.
Donna sagte: »Genau das habe ich ihm auch gesagt.
Ich hab’ versucht, ihm das klarzumachen. Wir säßen alle im gleichen Boot, und es würde den Rest von uns auch nicht zum Ausflippen bringen. Und er sagte: ›Du weißt nicht, was ich gesehen habe. Du weißt es nicht.‹«
Ein Krampf ging durch Bob Arctor und erschütterte
seinen ganzen Körper, und dann würgte er heraus: »Hat er … hat er gesagt, wie es war?«
»Funken. Ganze Kaskaden von farbigen Funken, un-
gefähr so, als würde an deinem Fernseher was kaputtge-hen. Funken, die die Wände hochgingen, Funken in der Luft. Und die ganze Welt war ein lebendiges Wesen,
wohin auch immer er blickte. Und es gab keine Zufälle: alles paßte zusammen und geschah planvoll, weil damit etwas erreicht werden sollte – irgendein Ziel in der Zukunft. Und dann sah er eine Pforte. Ungefähr eine Woche lang sah er sie, wohin auch immer er schaute – drinnen in seinem Apartment oder draußen, wenn er zum Laden
ging oder durch die Gegend fuhr. Und sie hatte immer die gleichen Proportionen; sie war sehr schmal. Er sagte, sie sei – beglückend gewesen. Das ist der Begriff, den er immer gebraucht hat. Er hat nie versucht, durch die Pforte hindurchzugehen; er hat sie einfach nur angeschaut, weil sie so beglückend war. Klare Konturen aus lebendi-gem roten und goldenen Licht, sagte er. Als ob sich die Funken entlang bestimmter Linien versammelt hätten, wie in der Geometrie. Und dann, hinterher, meine ich, hat er sie nie wieder gesehen, in seinem ganzen Leben 397
nicht, und das war es, was ihn schließlich so fertiggemacht hat.«
Nach einer Weile sagte Bob Arctor: »Und was war auf der anderen Seite.«
Donna sagte: »Er sagte, da sei noch eine Welt auf der anderen Seite gewesen. Er konnte sie sehen.«
»Er … ist nie hindurchgegangen?«
»Das ist ja der Grund, warum er wie ein Irrer in seinem Apartment rumgetobt ist; er hat nie auch nur daran gedacht, hindurchzugehen, er hat einfach nur die Pforte bewundert, und später konnte er sie überhaupt nicht mehr sehen, und da war’s zu spät. Sie öffnete sich ihm nur für ein paar Tage, und dann war sie wieder dicht und für immer verschwunden. Er hat wieder und wieder jede
Menge LSD und diese wasserlöslichen Vitamine ge-
nommen, aber er hat sie nie wieder gesehen; er hat nie die richtige Dosierung gefunden.«
Bob Arctor sagte: »Was war auf der anderen Seite?«
»Er sagte, es sei immer Nacht gewesen.«
»Nacht!«
»Da war Mondschein und Wasser, immer das gleiche
Bild. Nichts bewegte oder veränderte sich. Schwarzes Wasser, wie Tinte, und ein Ufer, ein Inselstrand. Er war sich sicher, daß es Griechenland war, das Griechenland des Altertums. Er legte sich die Theorie zurecht, daß die Pforte eine schwache Stelle in der Zeit war und daß er zurück in die Vergangenheit sah. Und dann, später, als er sie nicht mehr sehen konnte, meine ich, ist er immer auf den Freeway hinausgefahren, mitten hinein in den dichtesten Lastwagenverkehr, und dabei jedesmal schier
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wahnsinnig geworden. Er sagte, er könne die ganze Bewegung und den Lärm nicht aushalten, dieses ganze verrückte Hin- und Hergeschiebe, all das Scheppern und Bumsen. Jedenfalls konnte er nie herausfinden, warum ihm das, was er gesehen hatte, gezeigt worden war. Er
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