Der dunkle Schirm
Miß.«
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Sie löste sich von Bob Arctor, der zur Seite rutschte, bis er auf dem Boden lag; er bemerkte den Bullen gar nicht, der sich ihnen heimlich von einem Privatweg am Fuß des Hügels genähert hatte. Während Donna ihr
Ausweismäppchen aus der Geldtasche holte, winkte sie zugleich den Beamten beiseite, dahin, wo Bob Arctor nicht mithören konnte. Mehrere Minuten lang studierte der Beamte beim gedämpften Licht seiner Taschenlampe ihre Ausweise, und dann sagte er:
»Sie sind ein Geheimagent der Bundespolizei.«
»Sprechen Sie leise«, sagte Donna.
»Tut mir leid.« Der Beamte gab ihr die Ausweismappe zurück.
»Hauen Sie endlich ab, verdammt noch mal«, sagte
Donna.
Der Beamte leuchtete ihr kurz mit der Taschenlampe
ins Gesicht und wandte sich dann ab; er verschwand so geräuschlos, wie er auch gekommen war.
Als sie zu Bob Arctor zurückkehrte, wurde ihr sofort klar, daß er den Bullen überhaupt nicht bewußt wahrgenommen hatte. Er nahm jetzt nahezu nichts mehr bewußt wahr. Nicht einmal sie, geschweige denn irgend jemanden oder irgend etwas anderes.
Weit weg konnte Donna den Polizeiwagen hören, der
wie ein verklingendes Echo den ausgefahrenen, von hier aus nicht einsehbaren Privatweg hinunterrollte. Ein paar Wanzen, vielleicht eine Eidechse, raschelten durch das trockene Gras um sie herum. In der Ferne schimmerte das Lichterband des Freeway 91, aber kein Geräusch erreichte sie; der Abstand war zu groß.
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»Bob«, sagte sie sanft. »Kannst du mich hören?«
Keine Antwort.
Alle Schaltkreise sind zusammengeschmolzen, dachte
sie. Geschmolzen und verschmolzen. Und keiner wird sie wieder öffnen können, egal, wie sehr sie es versuchen mögen. Und sie werden es versuchen.
»Los, komm«, sagte sie und versuchte, ihn auf die Fü-
ße zu zerren. »Wir müssen endlich losspritzen.«
Bob Arctor sagte: »Ich kann keine Liebe machen.
Mein Ding ist weg.«
»Sie erwarten uns schon«, sagte Donna bestimmt. »Ich hab’ die Verantwortung dafür übernommen, daß du an-kommst.«
»Aber was soll ich bloß machen, wenn mein Ding weg
ist? Werden sie mich trotzdem aufnehmen?«
Donna sagte: »Sie werden dich nehmen.«
Es bedarf der größten Weisheit, die es nur geben mag, dachte sie, um zu erkennen, wann man Ungerechtigkeit walten lassen darf. Wie kann die Gerechtigkeit jemals dem zum Opfer fallen, was richtig ist? Wie kann so etwas passieren? Sie dachte: Weil auf dieser Welt ein Fluch liegt, und all das hier beweist es; das hier ist der endgültige Beweis, gerade das hier. Irgendwo, auf dem tiefsten möglichen Level, ist der Mechanismus, die Konstruktion der Dinge, auseinandergefallen, und aus dem, was übriggeblieben ist, hat sich das Bedürfnis gelöst, alle die verschiedenen Arten von vagem, verschwommenem
Bösen zu tun, zu dem der weiseste Ratschluß uns befä-
higt hat, und ist an die Oberfläche getrieben. Es muß vor Tausenden von Jahren begonnen haben. Und jetzt hat es 403
sich in das Wesen von allem eingeschlichen. Und, dachte sie, in jeden einzelnen von uns. Wir können uns nicht umwenden oder unseren Mund öffnen und sprechen, ja
nicht einmal eine einzige Entscheidung treffen, ohne das Böse zu tun. Es interessiert mich nicht, wie es angefangen hat, wann oder warum. Sie dachte: Ich hoffe nur, daß es einmal enden wird. Wie bei Tony Amsterdam; ich hoffe einfach nur, daß eines Tages der Sprühregen aus hell-leuchtenden Funken zurückkehren wird und wir ihn
diesmal alle sehen werden. Die schmale Pforte, hinter der es Frieden gibt. Eine Statue, das Meer, und das, was wie Mondschein aussieht. Und nichts, was sich bewegt,
nichts, was die Ruhe stören könnte.
Vor langer, langer Zeit, dachte sie. Vor dem Fluch, und jedermann und alles fand diese Ruhe. Das Goldene Zeitalter, dachte sie, als Weisheit und Gerechtigkeit dasselbe waren. Bevor alles in scharfkantige Splitter zer-barst. In winzig kleine Bruchstücke, die nicht zusam-menpassen, die nicht wieder zusammengefügt werden
können, so sehr wir uns auch bemühen.
Unter ihr, in der Dunkelheit, zwischen den wie zufällig in der Nacht verstreuten Lichtern der Stadt, ertönte eine Polizeisirene. Ein Polizeiwagen, der seiner Beute dicht auf den Fersen war. Es klang wie ein geistesgestörtes Tier, das danach gierte, zu töten. Und wußte, daß es bald töten würde. Sie erschauerte; die Nachtluft war kalt geworden. Es war Zeit, zu gehen.
Jetzt kann nicht das Goldene Zeitalter sein, dachte sie.
Nicht, wenn solche Geräusche aus der
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