Der dunkle Schirm
Und bis zu einem ge-
wissen Grad ist jeder so. Nur eines an mir ist tatsächlich schlimm – ich bin ein Lügner. Ich habe meinen Freund angelogen. Ich habe Bob Arctor die ganze Zeit über be-logen. Ich habe ihm sogar einmal gesagt, er solle bloß nichts von dem glauben, was ich sagte, aber natürlich hat er gedacht, ich würde nur scherzen; er hat nicht auf mich gehört. Aber nachdem ich es ihm einmal gesagt habe, lag es doch nur noch an ihm, ob er von da an noch auf mich hören und mir glauben wollte oder nicht. Ich habe ihn gewarnt. Aber er hat das, was ich ihm gesagt habe, sofort wieder vergessen und einfach weitergemacht. Ist einfach auf seinem Weg weitergegangen, ohne nach rechts oder links zu schauen.«
»Sie haben getan, was Sie tun mußten. Sie haben sogar mehr getan, als Sie tun mußten.«
Das Mädchen entfernte sich langsam vom Tisch. »O-
kay, dann gibt es soweit also nichts, was ich berichten müßte. Außer Ihrer optimistischen Einschätzung. Einfach nur, daß er eingeschleust worden ist und sie den Köder geschluckt haben. Sie haben nichts aus ihm herausge-kriegt bei diesen –« Sie schauderte. »Diesen gemeinen Spielen.«
»Richtig.«
»Dann bis später.« Sie hielt inne. »Die Regierungsleute werden nicht bis zum Winter warten wollen.«
»Im Winter oder nie«, sagte Westaway. »Zur Winter-
sonnenwende.«
»Zur was?«
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»Warten Sie einfach ab«, sagte er. »Und beten Sie.«
»Das ist Quatsch«, sagte Donna. »Beten, meine ich.
Ich habe früher mal gebetet, sehr viel sogar, aber jetzt nicht mehr. Wir würden das, was wir tun, nicht tun müssen, wenn Gebete funktionieren würden. Das ist nur wieder so ein Selbstbetrug.«
»Das sind die meisten Sachen.« Als sie sich langsam noch ein paar Schritte zurückzog, folgte er ihr, weil er sich zu ihr hingezogen fühlte; Zuneigung für sie empfand. »Ich glaube nicht, daß Sie Ihren Freund zerstört haben. Mir scheint, Sie sind genausosehr zerstört worden, ebensosehr ein Opfer. Nur tritt das bei Ihnen nicht so offen zutage.
Aber wie dem auch sei – es gab keine andere Wahl.«
»Ich werde in die Hölle kommen«, sagte Donna. Sie
lächelte plötzlich, ein breites, jungenhaftes Grinsen.
»Meine katholische Erziehung.«
»In der Hölle verkaufen die einem jetzt Klingelbeutel, und wenn man heimkommt, sind lauter kleine McDonald’s-Hamburger drin.«
»Und die sind aus Truthahnscheiße«, sagte Donna.
Und dann, ganz plötzlich, war sie verschwunden. Hatte sich zwischen den ziellos dahineilenden Menschen verflüchtigt; er blinzelte. Ob Bob Arctor das gleiche gefühlt hat wie ich jetzt? dachte er. Bestimmt. Im einen Augenblick war sie noch da, und sie schien so dauerhaft zu sein, als würde sie für alle Ewigkeit auch bleiben; dann –
nichts. Verschwunden wie Feuer oder Luft, ein Element der Erde, das in die Erde zurückkehrt. Sich mit den Jedermann-Menschen vermischt, die es immer gab und
immer geben wird. In ihrer Mitte ausgegossen. Das Mäd-438
chen, das verdunstete, dachte er. Das sich nach Belieben wandelt. Das kommt und geht, ganz wie sie will. Und niemand, nichts, kann sie fassen.
Ich versuche, den Wind mit Netzen einzufangen, dach-te er. Und das hatte auch Arctor versucht. Wie sinnlos es doch ist, dachte er, einen Rauschgiftagenten der Regierung festhalten zu wollen. Sie sind substanzlos. Schatten, die mit dem Hintergrund verschmelzen, wenn ihr Job das von ihnen fordert. Als ob sie eigentlich schon vorher gar nicht dagewesen wären.
Arctor, dachte er, hat ein von den Behörden geschaffenes Trugbild geliebt, eine holografische Projektion, durch die ein gewöhnlicher Mensch wieder und wieder hindurchgehen kann, nur um am Ende allein herauszu-kommen. Allein und ohne auch nur für einen Augenblick wirklich in ihr Innerstes eingedrungen zu sein – in das Mädchen selbst.
Der Wille des Herrn, überlegte er, ist es, aus dem Bö-
sen das Gute zu erschaffen. Wenn Er hier aktiv ist, tut Er das auch gerade jetzt, obwohl unsere Augen es nicht wahrnehmen können; der Prozeß liegt unter der Oberflä-
che der Wirklichkeit verborgen und kommt erst viel spä-
ter zum Vorschein. Vielleicht für unsere Nachgeborenen, jene armseligen Wesen, die nichts von dem Kampf wissen werden, den wir durchgestanden haben, und nichts von den Verlusten, die wir hinnehmen mußten – außer, wenn sie vielleicht in einer Fußnote zu einem unbedeu-tenden Buch einen Hinweis darauf finden. Irgendeine kurze Randnotiz, in der nicht einmal die Namen der Gefallenen
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