Der dunkle Schirm
zerstören; sie haben keine.
»Los, Mann, sag’s uns, wie’s ist!« drang eine etwas weniger aufdringliche Stimme zu ihm herauf – die Stimme einer Frau. Arctor ließ seinen Blick suchend über die Zuhörer schweifen und machte schließlich die Sprecherin aus: eine mittelalterliche Dame, die nicht ganz so fett war und ihre Hände wie zum Gebet ängstlich gefaltet hatte.
»Jeder Tag«, sagte Fred (oder Robert Arctor?), »fordert diese Seuche ihren Tribut von uns. Täglich steigen die Profite – und wohin sie fließen, werden wir –« Er brach ab. Selbst wenn sein Leben davon abgehangen hät-te, hätte er den Rest des Satzes nicht mehr aus den Tiefen seines Gehirns heraufbaggern können, obwohl er ihn
doch wenigstens eine Million mal wiederholt hatte, sowohl auf der Akademie als auch während der vorange-
gangenen Vorträge.
In dem großen Raum war es jetzt totenstill.
»Nun«, sagte er, »irgendwie dreht sich’s eigentlich gar nicht um die Profite. Der Kernpunkt liegt woanders. Ich meine, von dem, was sich da vor Ihrer aller Augen abspielt.«
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Verblüfft stellte er fest, daß die Zuhörer keinerlei Unterschied bemerkten, obwohl er doch vom vorbereiteten Text abgewichen war und jetzt völlig frei improvisierte und das sagte, was ihm gerade in den Sinn kam, ohne sich auf die Vorgaben der PR-Jungs drüben im Behördenzentrum des Orange County zu verlassen. Aber wieso sollten sie den Unterschied auch überhaupt entdecken?
Was wußten sie denn von dem, was um sie herum vor-
ging? Letztlich interessierte das alles sie doch gar nicht.
Die Spießer, dachte er, die da unter dem Schutz bewaffneter Wächter in ihren riesigen, festungsgleichen Apartment-Komplexen leben, würden doch keine Sekunde zö-
gern, das Feuer auf jeden Doper zu eröffnen, der mit einem leeren Kissenüberzug über der Schulter an ihren Mauern kratzt und versucht, ihr Piano und ihre elektrische Uhr und ihren Rasierapparat und ihr Stereogerät zu klauen – die sie ohnehin noch nicht abbezahlt haben –, damit er neuen Shit oder seinen nächsten Schuß kriegen kann. Denn wenn er den nicht kriegt, wird er möglicherweise sterben, einfach so, ka-wumm, weil er den Entzugs-schock und die damit verbundenen Qualen nicht durch-steht. Aber was kümmert das einen, solange man in seiner privaten Festung sitzt und durch die Schießscharten nach draußen späht, die Mauern unter Starkstrom stehen und die Wächter genug Munition für ihre Kanonen haben?
»Stellen Sie sich einmal vor«, sagte Fred, »Sie wären ein Diabetiker und hätten kein Geld mehr für den nächsten Schuß Insulin. Würden Sie dann stehlen, um an das Geld zu kommen? Oder würden Sie sich einfach hinlegen und sterben?«
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Schweigen.
Im Kopfhörer seines Jedermann-Anzugs sagte eine
blecherne Stimme: »Ich glaube, Sie sollten besser zum vorbereiteten Text zurückkehren, Fred. Ich möchte Ihnen das wirklich dringend raten.«
Über sein Kehlkopfmikrophon sagte Fred (oder Robert Arctor?): »Ich hab’ den Text vergessen.« Nur sein Vorgesetzter im Hauptquartier, der nicht mit Mr. F. (alias Hank) identisch war, konnte diese Worte hören. Der anonyme Beamte am anderen Ende der Leitung war Fred
nur für die Dauer dieser PR-Einsatzes zugeteilt worden.
»Verstaaanden«, schepperte die blecherne Antreiber-
stimme in Freds Kopfhörer. »Ich werde Ihnen den Text vorlesen. Sprechen Sie ihn mir bitte Wort für Wort nach, aber achten Sie darauf, daß die entstehenden Pausen ganz natürlich wirken.« Ein kurzes Zögern, dann das Rascheln von Papier. »Wollen wir mal schauen … Jeden Tag steigen die Profite stärker an – und wohin sie gehen, werden wir –‹ Ungefähr da haben Sie aufgehört.«
»Ich habe einen psychologischen Block gegen dieses
Zeug«, sagte Arctor.
»›– schon bald herausfinden‹«, sagte sein offizieller Souffleur, ohne auf Arctors Einwand zu achten, »›und dann wird die ganze Strenge des Gesetzes die Hintermänner treffen. Und wenn es soweit ist, möchte ich um keinen Preis der Welt in ihrer Haut stecken.‹«
»Wissen Sie eigentlich, warum ich einen Block gegen dieses Zeug habe?« sagte Arctor. »Weil es genau das ist, was die Leute zur Droge treibt.« Und er dachte: Genau das ist der Grund dafür, daß man auf alles pfeift und ein 48
Doper wird. Warum man einfach aufgibt und angewidert weggeht.
Aber dann ließ er seinen Blick einmal mehr über das Auditorium schweifen und begriff, daß das alles auf diese Menschen dort unten nicht zutraf. Nur mit
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