Der dunkle Schirm
menschliche Wärme und die verschiedenen Gefühle herunter, die manchmal aufzukommen drohten; weder Zorn noch Liebe noch andere tief ergehende Emotionen, gleich welcher Art, würden ihm oder Hank helfen. Was nützte es ihnen denn, ihrer starken persönlichen Betroffenheit freien Lauf zu lassen, wenn sie über
Verbrechen – noch dazu Kapitalverbrechen – diskutierten, die von Personen begangen worden waren, die Fred nahestanden und ihm sogar, wie im Falle von Luckman und Donna, teuer waren? Nein, sie mußten ihre Gefühle ausklammern. Und das taten sie beide, er noch mehr als Hank. Sie wurden neutral; sie sprachen in einem neutralen Tonfall; sie sahen neutral aus. Und langsam wurde es immer einfacher, die eigenen Empfindungen zu unter-99
drücken, selbst ohne vorherige Einstimmung.
Und hinterher sickerten dann alle seine Gefühle wieder in ihn zurück.
Entrüstung angesichts der Geschehnisse, die er hatte mit ansehen müssen. Entrüstung und sogar Entsetzen
und, im Nachhinein, lähmender Schock. Große, überwäl-tigende Gefühlssequenzen, die ohne Beispiel waren.
Bildfolgen mit viel zu lautem Ton in seinem Kopf.
Aber während er hier saß, nicht nur durch den
Schreibtisch von Hank getrennt, fühlte er keine dieser Emotionen. Theoretisch konnte er alles, was er ab Zeuge miterlebt hatte, völlig teilnahmslos beschreiben. Oder sich teilnahmslos alles anhören, was Hank ihm erzählte.
Zum Beispiel konnte er jetzt beiläufig sagen: »Donna stirbt langsam an Hepatitis und benutzt ihre Nadel dazu, noch so viele ihrer Freunde mitzunehmen, wie sie eben kann. Ich würde empfehlen, daß wir sie unter Druck setzen, bis sie damit aufhört.« Seine eigene Puppe … falls er das beobachtet hatte oder wenigstens wußte, daß es zutraf. Oder: »Donna hat ein Mickymaus-LSD-Analog
geschluckt und leidet jetzt unter akuter Gefäßverengung im letzten Stadium. Die Hälfte der Blutgefäße in ihrem Gehirn ist schon dicht.« Oder: »Donna ist tot.« Und Hank würde das seelenruhig notieren und vielleicht fragen: »Wer hat ihr den Stoff verkauft, und wo wird er hergestellt?« oder. »Wo ist die Beerdigung? Wir sollten auf jeden Fall die Autonummern registrieren und so die Namen der Leute herausfinden, die an der Beerdigung teil-nehmen.« Und er, Fred, würde völlig emotionslos mit Hank darüber diskutieren.
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Das war Fred. Aber später irgendwann verwandelte
sich Fred wieder in Bob Arctor, irgendwo auf dem Bürgersteig zwischen dem Pizza-Schuppen und der Arco-Tankstelle (wo das Normalbenzin jetzt einen Dollar und zwei Cent pro Gallone kostete), und die fürchterlichen Farben sickerten wieder in ihn zurück, ob ihm das nun gefiel oder nicht.
Diese Verwandlung, die er in seiner Identität als Fred erlebte, war eine Art »Ökonomie der Leidenschaften«, Auch Feuerwehrleute und Ärzte und Leichenbestatter
gingen bei ihrer Arbeit auf den gleichen Trip. Keiner von ihnen konnte alle paar Augenblicke aufspringen und los-schreien; durch ein solches Verhalten würden sie sich zuerst selbst aufreiben und nutzlos werden und anschlie-
ßend auch die Menschen in ihrer Umgebung fertigma-
chen. Und das gleichermaßen als Techniker während der Arbeitszeit und als Menschen in ihrem Privatleben. Jedes Individuum hat nur eine beschränkte Menge von Energie, über die es verfugen kann.
Hank zwang Fred diese Leidenschaftslosigkeit nicht
auf; er gestattete ihm vielmehr, so zu sein. Um seinetwil-len. Fred rechnete ihm das hoch an.
»Was ist mit Arctor?« fragte Hank.
Zu allem Überfluß erstattete Fred in seinem Jeder-
mann-Anzug auch noch über sich selbst Bericht. Tat er das nicht, dann würde sein Vorgesetzter – und durch ihn die gesamte Behörde – gewahr werden, wer Fred war,
Anzug oder nicht. Und die Spitzel, die die ST-Agentur in den Polizeiapparat eingeschleust hatte, würden der Agentur diese brandheiße Neuigkeit natürlich sofort melden.
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Und dann würde Fred, der als Bob Arctor in seinem
Wohnzimmer saß und zusammen mit anderen Dopern
Dope rauchte und Dope einpfiff, plötzlich entdecken, daß auch hinter ihm ein neunzig Zentimeter großer Killer auf einem Wägelchen herrodelte. Und er, Bob Arctor, würde nicht halluzinieren, wie Jerry Fabin das getan hatte.
»Arctor rührt sich im Moment nicht«, sagte Fred –
seine Standardantwort. »Arbeitet bei der Briefmarken-sammelstelle des Blauen Chip, schluckt täglich ein paar Tabletten Tod, der mit Methedrin gepanscht ist –«
»Ich bin mir da nicht so sicher.« Hank
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