Der dunkle Schirm
Haus fegen,
nachdem Jerry zu Besuch gekommen ist. Er verspürte
das Bedürfnis zu lachen, als er daran dachte. Einmal hatten sie eine Theorie entwickelt, mit der sich Jerrys Blattlaus-Trip psychoanalytisch erklären ließ. Den Löwenan-teil dazu hatte der clevere, stets zu Spaßen aufgelegte Luckman beigetragen – bei solchen Sachen hatte er wirklich was auf dem Kasten. Natürlich setzte die Erklärung bei Jerry Fabins Kindheit an. Eines schönen Tages also kommt Jerry Fabin aus der ersten Klasse nach Hause, den Ranzen unter den Arm geklemmt, fröhlich pfeifend. Und da sitzt im Eßzimmer neben seiner Mutter diese große Blattlaus, ungefähr einen Meter groß. Jerrys Mutter schaut sie stolz an.
»Was is’n los?« erkundigt sich der kleine Jerry Fabin.
»Das hier ist dein älterer Bruder«, sagt seine Mutter,
»den du bisher noch nicht kennengelernt hast. Er wird von jetzt an bei uns wohnen. Ich mag ihn viel lieber als dich. Er kann viel mehr als du.«
Und von da an vergleichen Jerry Fabins Eltern ihn
pausenlos mit seinem älteren Bruder, der Blattlaus, und immer schneidet Jerry dabei schlecht ab. Als die beiden 117
heranwachsen, entwickelt Jerry nach und nach einen
starken Minderwertigkeitskomplex – was unausbleiblich ist. Nach der Oberschule erhält sein Bruder ein Stipendium für ein College, während Jerry in einer Tankstelle zu arbeiten beginnt. Danach wird dieser Bruder, die Blattlaus, ein berühmter Arzt oder Wissenschaftler, ja sogar Nobelpreisträger. Jerry hingegen wechselt immer noch für einen Dollar fünfzig in der Stunde Reifen an der Tankstelle. Seine Mutter und sein Vater hören nie damit auf, ihn daran zu erinnern. Sie sagen immer:
»Wenn du doch bloß nach deinem Bruder geraten
wärst!« Schließlich läuft Jerry von zu Hause fort. Aber in seinem Unterbewußtsein fühlt er immer noch, daß Blattläuse ihm überlegen sind. Zuerst glaubt er, sicher zu sein, aber dann fängt er an, in seinen Haaren und in seinem Haus überall Blattläuse zu sehen, weil sich sein Minderwertigkeitskomplex inzwischen in eine Art sexuellen Schuldkomplex verwandelt hat, und die Blattläuse sind nun eine Strafe, die er sich selber auferlegt, etc.
Jetzt fand Arctor das nicht mehr so spaßig wie damals
– jetzt, da Jerry mitten in der Nacht auf Betreiben seiner eigenen Freunde weggeschleppt worden war. Sie selbst –
alle, die in jener Nacht mit Jerry zusammengewesen waren – hatten beschlossen, die Klinik zu verständigen; die Lage hatte sich so zugespitzt, daß man diesen Schritt nicht länger hinauszögern konnte. Er war absolut unvermeidlich. In jener Nacht nämlich hatte Jerry die Vordertür seines Hauses verbarrikadiert – mit allem, was er in seinem Haus nur finden konnte, so ungefähr neunhundert Pfund gottverdammter Kram, einschließlich der Couch 118
und der Stühle und des Eisschranks und des Fernsehers.
Und dann hatte er allen erzählt, daß eine gigantische, superintelligente Blattlaus von einem anderen Planeten da draußen sei und sich darauf vorbereitete, hereinzukom-men und sich ihn zu schnappen. Und weitere würden spä-
ter noch landen, selbst wenn er diese hier erwischte. Diese außerirdischen Blattläuse waren bei weitem gewitzter als alle Menschen und würden, wenn nötig, auch geradewegs durch die Wände kommen, denn das sei für sie dank ihrer übernatürlichen Fähigkeiten gar kein Problem.
Um sich selbst so lange wie möglich zu retten, würde er das Haus mit Zyanidgas fluten müssen, worauf er vorbereitet war. Welche Vorkehrungen er denn getroffen habe, hatten seine Freunde wissen wollen. Nun, hatte Jerry daraufhin erklärt, er habe bereits alle Fenster und Türen mit Klebeband luftdicht versiegelt. Dann schlug er vor, die Wasserhähne in der Küche und im Badezimmer aufzu-drehen und das Haus zu überfluten. Er behauptete, daß der Heißwassertank in der Garage mit Zyanid gefüllt sei, nicht mit Wasser. Er habe das schon seit langer Zeit ge-wußt, das Gas aber bis zum Schluß aufgespart, sozusagen als letzte Verteidigung. Zwar würden auch sie selber alle dabei sterben, aber wenigstens würden sie auf diese Weise die superintelligenten Blattläuse daran hindern, ins Haus einzudringen.
Seine Freunde riefen daraufhin die Polizei an. Die Polizisten brachen die Vordertür auf und karrten Jerry weg in die Staatliche Nervenklinik. Das letzte, was Jerry zu ihnen allen sagte, war: »Bringt mir später meine Sachen
– bringt mir mein neues Jackett mit den Perlen auf dem 119
Rücken
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