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Der dunkle Spiegel

Titel: Der dunkle Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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erschütternden Erfahrungen des Tages zu offenbaren.
    »Alma Redemptoris Mater, quae pervia caeli Portamanes… Erhabene Mutter des Erlösers, die allzeit offene Pforte des Himmels, ich bin verwirrt und verängstigt. Was habe ich angerichtet, heilige Maria! Ich habe einen stillen See aufgerührt, und schwarzer Schleim ist an die Oberfläche getreten. Werden die Höllenqualen auf mich warten, wie Rigmundis sie geschildert hat, weil ich diesen Weg gegangen bin? Ich habe einen Priester zu unrechtem Tun veranlasst, und nun kenne ich die Gründe, die Jean an den Abgrund geführt haben. O Maria, barmherzige Jungfrau, warum habe ich nicht schweigen können? Es wächst nichts Gutes aus meinen Taten, außer vielleicht, dass Tilmann nun Bruder Johannes nichts davon sagen wird. Er wird noch vor dem Sonntag freikommen, denn schon ist der Erzbischof von seiner Gefangennahme in Kenntnis gesetzt worden, und ihresgleichen sorgen für sich. Aber es war Erpressung, was ich vorgeschlagen habe.«
    Unglücklich und voller Gewissensbisse sah Almut zu der Marienstatue auf, die dunkel im Gegenlicht der untergehenden Sonne verharrte. Eine strenge Mutter, so schien es ihr, blickte auf sie herab.
    »Vergib mir, erhabene Jungfrau, die du fehlerlos und rein geblieben bist. Ich habe die Geheimnisse eines Mannes aufgedeckt, die hätten geheim bleiben sollen. Ich habe es mit unlauteren Mitteln getan und andere mit darein verwickelt. Ach – Mist, Maria, aber was sonst hätte ich tun sollen? Wie kann ich untätig bleiben, wenn der Mörder eines unschuldigen Jungen frei herumläuft? Obwohl – so unschuldig war Jean nicht. Mein Gott, Maria, große Mutter, Himmelskönigin, welche Last hat er getragen! Ein halbes Kind noch und verführt von einem, der es hätte besser wissen müssen. Ich wusste zwar, dass es so etwas gibt wie diese verbotene Leidenschaft, aber sie kommt mir so unsinnig und so seltsam vor. Maria, wie kann denn so etwas sein? So eine Verirrung der Gefühle, wider die Natur und ekelhaft. Wie konnte sich Hermann de Lipa so an einem jungen Mann vergehen, der seinem Schutz anvertraut wurde? Er tat es heimlich, und es begann, als er ihn im Herbst letzten Jahres auf das Weingut mitnahm. Und ich spottete noch über die dralle Winzerstochter. Armer Jean, das konnte er gewiss nicht beichten. Eine schwere, unaussprechliche Sünde hatte er auf sich geladen. Und nicht nur das, auch ein Verbrechen war es, das man furchtbar bestraft, wenn es offenbar wird. Ist es nicht verständlich, dass er schwieg? Ach, Maria, und dann dieser Tilmann, der es herausfand. Ein Strolch, ein mieser, schleimiger, ehrloser Halunke, der die Gewissensqualen des Jungen erkannte und ihn damit zwang, seinen Geschäften zu dienen. Er hat sie entdeckt, draußen auf de Lipas Weingut, und im Frühjahr hat er Jean schließlich mit seinem Wissen unter Druck gesetzt. Mein Gott Maria, er schämte sich nicht einmal dafür! Er lachte auch noch darüber und hielt es für einen guten Einfall. Mir tut das Herz weh wegen dieses Jungen. Doch er ist tot, und irgendjemand empfand ihn als Bedrohung, sonst hätte er ihn nicht ermordet. Es könnte sogar de Lipa selbst gewesen sein, Maria, der um sein Ansehen fürchtete. Ach, was habe ich für einen hässlichen Abgrund aufgedeckt. Fast so wie der, von dem Rigmundis sprach.«
    Der Himmel hatte sich im Westen grünlich verfärbt und ging langsam in dunkles Blau über. Die weiße Scheibe des Mondes, die schon seit den frühen Abendstunden blass am Himmel hing, begann, in silbernem Schein zu leuchten. Dieses Licht schien nun auch zum Fenster der kleinen Kammer herein und verlieh der dunklen Statue lebendige Konturen. Almut ließ gedankenverloren ihren Blick auf ihr ruhen, und nach einiger Zeit nickte sie dann.
    »Barmherzige Maria, verständnisvolle Mutter, du lehrst mich, auch das Gute an dem schrecklichen Wissen zu erkennen. Denn wenngleich Tilmann ein gewissenloser, selbstsüchtiger Bursche ist, so hat der doch so viel Ehrgefühl bewiesen, dem Inquisitor nichts von Jeans und de Lipas Geheimnis zu verraten. Weiß der Teufel – pardon, Maria –, wie Pater Ivo ihn dazu gebracht hat. Ich frage ihn besser nicht danach. Er und ich, wir werden vorsichtig mit dem umgehen, was wir nun wissen. Aber wer weiß sonst noch davon? Dietke? Weiß Dietke es? Sie hat sich über die bevorzugte Behandlung beklagt, die ihr Mann seinem jungen Adlatus angedeihen ließ. Sie liebt ihn, sagt sie, und sie ist eifersüchtig. Und wenn sie diese verbotene Leidenschaft ahnte…

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