Der dunkle Spiegel
Besonnenere berichteten von einigen Brandpfeilen, die eine Scheune und zwei alte Kirschbäume in Flammen hatten aufgehen lassen, warnten jedoch vor der Ausbreitung des Feuers, da es in den vergangenen Tagen wenig geregnet hatte. Als schließlich das Vesperläuten ertönte, hatte sich Thea so weit ein Bild von der Lage machen können, dass sie beschloss, den Rückweg in den dem Konfliktherd entgegengesetzt liegenden Stadtteil zu wagen, zu ihrem Konvent. Sie machte Trine ein Zeichen, und beide hielten nach Almut Ausschau. Aber nirgendwo in der wimmelnden Menge entdeckten sie den grauen Schleier einer Begine, und so vermutete Thea, Almut hätte, als sie im Durcheinander von ihnen getrennt wurde, bereits früher den Entschluss gefasst, nach Hause zu gehen.
Es war in der Tat ruhig auf den Straßen geworden, und ihr Rückweg verlief ohne Hindernisse. Als sie in den Hof eintraten, herrschte hier friedliche Ruhe, und Thea, erschöpft von den Aufregungen der letzten Stunden, zog sich in ihre Kammer zurück, um sich zu sammeln und der Meisterin Bericht zu erstatten. Für einen kurzen Moment wollte sie sich ausruhen und die müden Füße hochlegen. Doch sie wachte erst auf, als die Sonne schon ein ganzes Stück dem Horizont zugewandert war.
Trine hingegen hatte versucht, Clara und Elsa nach Almut zu fragen, aber beide Frauen verstanden nicht recht, was sie wissen wollte. Resigniert hockte sie sich in den Kräutergarten und hielt ihre eigene Zwiesprache mit den Pflanzen. Hier fand sie Thea, als sie schließlich erfrischt aus ihrem Schlummer erwacht war. Sie hatte keine Sorge um Almut, gewiss hatte die schon gleich bei ihrer Ankunft Magda von den unerwarteten Schwierigkeiten berichtet. Aber Trine sprang sofort auf, als sie ihrer ansichtig wurde, und zupfte heftig an ihrem Ärmel. Mehr ahnend als verstehend fragte Thea: »Almut? Almut suchst du?«
Das taubstumme Mädchen hatte gelernt, aus den Bewegungen der Lippen Namen zu erkennen, und formte behutsam »Almut« nach.
Jetzt war Thea allerdings auch alarmiert und begab sich zurück zum Haupthaus, um an Magdas Tür zu klopfen. Die Meisterin saßüber ein Buch gebeugt und machte sorgfältige Haushaltseintragungen.
»Ist Almut bei dir gewesen?«, fragte sie ohne Einleitung.
»Nein. Hätte sie mir etwas berichten sollen?«
Thea setzte sich auf die Bank und erzählte von dem hektischen Aufbruch aus de Lipas Haus.
»Ich habe sie irgendwo in dem Gewimmel verloren. Ich hoffe, es ist ihr nichts passiert.«
»Ich glaube, Almut kann sehr gut auf sich selbst aufpassen. Als sie euch verloren hat, ist sie sicher zum Haus ihrer Eltern geeilt. Es ist nicht weit von dem der de Lipas entfernt.« Magda lächelte ein wenig. »Sie nimmt es manchmal nicht zu genau mit der Zeit. Möglicherweise schwatzt sie in völliger Sicherheit mit ihrer Stiefmutter.«
»Ich hoffe es. Könnte man nicht eine Magd hinschicken, um nachzufragen?«
»Hast du nicht selbst gesagt, dass im Süden Gefahr durch die Söldner des Erzbischofs droht? Wenn Almut bei ihren Eltern ist, kann sie die Nacht dort verbringen. Das ist mir lieber, als jetzt noch jemanden von uns durch die Straßen ziehen zu lassen.«
Thea sah das ein und beruhigte die mahnende Stimme in ihrem Inneren.
Trine hingegen fand keinen solchen Trost, und in ihrer stillen Welt wuchsen Bilder schlimmer Ahnungen. Niemandem konnte sie davon erzählen, niemanden von ihrer Vermutung überzeugen, dass die Frau, die ihr stets Verständnis und rückhaltlose Zuneigung hatte zuteil werden lassen, sich in größter Gefahr befand.
Als die Glocken zur Komplet läuteten, huschte Trine aus dem Tor und lief zu der einzigen Person, von der sie glaubte, in ihr eine verwandte Seele zu finden.
Der Laienbruder, der als Pförtner von Groß St. Martin seinen Dienst tat, bemerkte das in einen grauen Kittel gehüllte Kind nicht, das sich in den langen Schatten der Abendsonne beinahe unsichtbar durch einen Spalt des Tores drückte und dann mit den grauen Mauern verschmolz. Trine war unbemerkt in den Hof des Klosters geschlüpft und sah sich nun in dem wie ausgestorben wirkenden Geviert suchend um. Kein Mönch, kein Novize, kein Knecht war zu sehen, der ihr hätte Auskunft geben können. Vor Verzweiflung biss sie sich auf den Zeigefinger und musste die Tränen unterdrücken, die ihr in die Augen stiegen. Sie hatte es sich leichter vorgestellt, den Pater zu finden, von dem Almut ihr gezeigt hatte, dass er trotz seiner barschen Art ihr gegenüber ein gutes Herz barg. Sie wusste
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