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Der dunkle Spiegel

Titel: Der dunkle Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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besser kennen müssen?«
    »Er tut es, Begine. Und das war jetzt wirklich die letzte Frage! Lebt wohl, und die geduldige Maria behüte Euch.«
    Den Rest des Tages und auch die zwei folgenden verbrachte Almut fleißig im Kreise der Beginen und säumte zarte Schleierstoffe. Sie saßen draußen auf Bänken im Schatten, um das Tageslicht für die feinen Arbeiten zu nutzen, und lauschten den erbaulichen Geschichten über gottesfürchtige Märtyrerinnen, die die Lesekundigen unter ihnen abwechselnd vortrugen. Almut lauschte auch den weniger erbaulichen, aber dafür bissigeren Kommentaren Claras zu diesen Geschichten und dem überhaupt nicht erbaulichen allgemeinen Klatsch. Zwischendurch erfrischten sie sich mit kaltem Apfelwein, der in Krügen bereitstand, und Gebäck aus Gertruds Ofen.
    Oftmals, wenn die Nadel mit hypnotischer Gleichförmigkeit durch den Stoff glitt, lauschte Almut auch ihren eigenen Gedanken. Und die kreisten bald um Frau Dietke und den Hustensaft, bald um den verkrüppelten Bruder Rudger und auch um den kranken de Lipa. Jean tauchte in diesen Gedanken auch auf, und sie sah wieder sein schönes jungenhaftes Gesicht. Einmal hatte sie sogar eine Vorstellung, wie er in reiferen Jahren ausgesehen hätte, doch dann wurde daraus das Bild des Mannes in Schwarz, Leon de Lambrays. Und noch ein anderer junger Mann beschäftigte ihre Gedanken, der blonde Tilmann, der in seiner Zelle saß und über brisantes Wissen verfügte. Würde es Pater Ivo gelingen, ihm dieses Wissen zu entlocken? Von Pater Ivo wanderten ihre Gedanken zu Meister Krudener, und der neugierige Wurm, der an ihrer Seele nagte, hätte zu gerne gewusst, was die beiden miteinander verband.
    Sie war nicht die Einzige, deren Geist in der Wärme bei den eintönigen Stick- und Näharbeiten wanderte. Viel weiter als ihr eigener schweifte Rigmundis’ Geist umher, und als die Gespräche zu gelegentlichem Gemurmel geworden und die Augen aller auf die gleichmäßig in den Stoff ein- und auftauchenden Nadeln gerichtet waren, begann sie plötzlich zu sprechen.
    »Ah, wie sich die Sonne verdunkelt, und wie die Welt schwärzer wird und die Sterne vom Himmel fallen!«
    Ruckartig fuhren alle Köpfe hoch, und die Beginen starrten Rigmundis an, die mit geschlossenen Augen das Gesicht nach oben gewendet hatte.
    »Ich halte den Schlüssel zum Brunnen des Abgrundes in der Hand. Und mit ihm muss ich den Brunnen öffnen. Oh, und es steigt Rauch aus ihm herauf, wie aus einem gewaltigen Ofen, und die Himmel verfinstern sich. Es zieht mich hinein in den Schlund, der sich geöffnet hat. Ich muss hinabsteigen in die Höhlen der Erde. Die Windungen führen mich immer tiefer und tiefer in nachtschwarze Abgründe. Dort, in den Ecken, lauern verstohlen die Schatten, und mit kalten Händen greifen sie nach mir. Ich eile, eile, um ihnen zu entfliehen, doch ein Fratzengesicht verfolgt mich, monströs anzusehen, ungestalt und verzerrt, und aus seinem geifernden Mund fließt das Blut. Es will mich packen, stößt ein hohles Gelächter aus, doch ich kann ihm entkommen, hinein in die feuchtkalten Kerker. Schwefelgestank und der Geruch der Fäulnis umgeben mich, ich bin in den Schluchten der Unterwelt gefangen. Einer kalten, finsteren Hölle. Tod und Verdammnis rings um mich her! Ohhhhh!«
    Almut war der Unterkiefer heruntergefallen, und geschüttelt von einem kalten Schauder lauschte sie den Beschreibungen der höllischen Visionen. Bisher hatte Rigmundis nur berichtet, was sie zu anderer Zeit geträumt hatte, einem echten Anfall seherischer Trance hatten sie noch nie beigewohnt.
    »Wir sollten sie aufwecken, das ist ja entsetzlich!«, flüsterte sie.
    »Aber nein, du kannst doch ihre Visionen nicht stören,« flüsterte Clara zurück.
    Rigmundis fuhr mit ihrem Wortschwall fort: »Die Welt ohne Licht, sie raubt mir die Sinne, sie nimmt mir den Atem und brennt in meiner Kehle. Mein Peiniger will mich vernichten, seine Klauen reißen das Fleisch von meinen Gebeinen!«
    Ihre Hände krallten sich in ihre Arme, ihr Körper verkrampfte sich.
    Resolut stand Almut auf und nahm einen Becher Apfelwein. Elsa hatte sich ebenfalls erhoben, packte die weggetretene Seherin bei den Schultern, fasste sie unter dem Kinn und drückte ihr mit einem geübten Handgriff den Mund auf. Almut goss einen Schluck Apfelwein hinein; Rigmundis verschluckte einen Teil der kalten Flüssigkeit und spie den Rest im hohen Bogen aus. Aber sie war wieder bei Sinnen und sah sich hustend und mit wirrem Blick um.
    »Heilige

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