Der dunkle Spiegel
Jungfrau Maria, war das grauenvoll!«, stammelte sie.
Elsa ließ sie los, und Almut drückte ihr den Becher in die Hand. Dankbar trank sie in kleinen Schlucken.
»Erinnerst du dich an das, was du gesehen hast, Rigmundis? Weißt du, was es bedeuten sollte?«
Sie schüttelte sich vor Entsetzen.
»Doch, ich erinnere mich. Ein Strafgericht wird über mich kommen. Ich werde vernichtet!« Sie schluchzte auf und legte den Kopf in die Hände. Almut hatte sich neben sie gesetzt und versuchte, sie zu trösten.
»Schade, dass Magda erst am Abend zurückkommt. Beruhige dich, Rigmundis. Du hast schon häufiger solche Visionen gehabt, und bislang sind es immer nur Warnungen vor mildem Ungemach gewesen.«
»Ich weiß nicht Almut. So deutlich wie heute habe ich es noch nie erlebt. Und es gab keine Rettung!«
»Aber wofür solltest du bestraft werden, Rigmundis. Du führst ein tugendsames Leben, du gehst regelmäßig zur Messe und zur Beichte, du fügst niemandem Schaden zu und hast keinen bösen Sinn.«
»Wir sind alle sündig geboren, das weißt du doch!«
»So sagt man uns, aber du bist getauft worden und glaubst doch auch an die Erlösung und die Liebe unseres Herren. Er wird dich nicht in die Hölle verstoßen, sondern mit Freude in seine Arme aufnehmen. Er ist kein gnadenloser Rächer, sondern rettet uns durch seine Barmherzigkeit. So steht es doch in der Bibel, Rigmundis.« Eindringlich redete Almut auf die verstörte Frau ein. »Höre, es steht geschrieben: ›Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird.‹ Das hat der Apostel Paulus gesagt.«
»Hat er gesagt?«
»Clara, stimmt doch?«
»Ja, das hat er gesagt.«
Rigmundis erholte sich allmählich wieder, während das Getuschel unter den anderen Beginen anschwoll. Clara mischte sich ein und bemühte sich, der erschreckenden Vision eine einigermaßen harmlose Deutung zu geben. Almut aber fühlte noch immer die kalten Schauer über ihren Rücken laufen. Zu gut erinnerte sie sich an das Bild des dunklen Spiegels und das, was daraus entstanden war. Rigmundis hatte die Gabe der Vorsehung, und sie zweifelte nicht daran, dass auch diese Prophezeiung eine Wahrheit enthielt. Zu groß war die Ähnlichkeit mit der kalten Hölle, die Jean gefürchtet hatte, dem stinkenden, tödlichen Verlies, in das er möglicherweise gebracht worden war.
Die anderen hatten sich inzwischen beruhigt und ihre Handarbeiten wieder aufgenommen. Elsa hatte Rigmundis in ihr Zimmer gebracht und ihr ein paar Tropfen einer beruhigenden Arznei gegeben. Auch Almut stickte weiter an dem Schleier, doch ihre Hände waren zu fahrig, um den feinen Stoff mit der nötigen Sorgfalt zu behandeln. Darum war sie froh, als kurz darauf der Zimmermann ihres Vaters an das Tor klopfte. Die Vermessung der Stallwände, das Berechnen der notwendigen Menge Schindeln und der Länge der Dachsparren lenkten sie endlich von den trüben Gedanken ab.
Doch der Tag brachte ihr noch eine weitere Erschütterung, denn nach der Vesper sprach auch Pater Ivo wieder vor. Sie setzten sich gemeinsam auf die Bank im Kräutergarten, und er begann: »Begine, ich habe lange mit mir gerungen, ob ich Euch berichten soll, was ich von Tilmann erfahren habe. Ja, ja, Euer Plan ist aufgegangen, sogar besser, als ich selbst dachte. Ein Abgesandter des Trierer Erzbischofs lief mir über den Weg. Kurz und gut, der Gefangene hatte seine missliche Lage eingesehen und war froh genug darüber, dass ich mich für ihn verwenden wollte. Er verriet mir, was ich wissen wollte, Begine. Und es ist eine schlimme Sache.«
Er fand sie ungewöhnlich schweigsam, während er ihr in nüchternen Worten von seiner Unterhaltung mit Tilmann berichtete. Sie hörte nur mit gesenktem Kopf zu und sah ihn, als er geendet hatte, kurz an.
»Es ist zu viel heute, Pater. Ich kann jetzt nichts dazu sagen. Gebt mir etwas Zeit, um über die Folgen nachzudenken.«
»Wie Ihr wollt. Auch ich habe mir meine Gedanken gemacht und werde handeln. Doch nicht, bevor sich die Lage geklärt hat. Begine, es geht die Kunde um, die erzbischöflichen Truppen wollten versuchen, die Stadt anzugreifen. Sie sammeln sich im Süden. Seid wachsam, und macht keine Ausflüge außerhalb der Tore.«
23. Kapitel
Die Sonne ging spät unter an diesem lichten Sommertag, und erst in der Dämmerung fand Almut Zeit, sich in der Stille vor ihre kleine Marienstatue zu knien, um sie zu bitten, ihr den Sinn der
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