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Der dunkle Spiegel

Titel: Der dunkle Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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jetzt, dass ihre mütterliche Freundin ihm vertraute, und so wollte sie es auch tun. Aber wo konnte sie ihn finden? Mutlosigkeit half ihr jetzt nicht, sie löste ihre verkrampften Kiefer und gab den Finger frei, in den sich tief die Male ihrer Zähne eingeprägt hatten. Dann sog sie lange die Luft ein. Das half ihr, sich zu entspannen, und brachte ihr zudem eine hilfreiche Botschaft. Denn in der milden, süßen Abendluft schwebte ein Hauch von Weihrauch zu ihr herüber. Da wusste sie, wo sie Pater Ivo zu suchen hatte.
    Goldenes Kerzenlicht leuchtete im Inneren von Groß St. Martin. An die fünfzig Mönche hatten sich versammelt und sangen die Psalmen der Komplet. Manche waren nur pflichteifrig dabei, andere jedoch versunken in ihre Andacht, aber niemand bemerkte das Mädchen, das sich durch die Seitentür hereindrückte und sich an diesem ihr verbotenen Ort neugierig umsah. Sacht schnüffelte Trine die weihrauchgeschwängerte Luft und lauschte den Schwingungen, die die anwesenden Mönche für sie aussandten. Sie empfing das Gefühl des Friedens und der Geborgenheit in dem gleichförmigen Ablauf des Rituals von Gesang und Gebet und seufzte erleichtert. Dann jedoch konzentrierte sie sich auf ihre Aufgabe, und mit den geschärften Sinnen, die ihr zur Verfügung standen, fand sie die kniende Gestalt Pater Ivos unter allen anderen. Sie hatte sogar Glück, denn er hatte seinen Platz am Ende einer Reihe Mönche eingenommen, und im Schatten der Säulen huschte sie im Seitenschiff zu ihm. Er hatte seinen Blick auf den Altar gerichtet, das Gesicht, das ihr bisher streng und manchmal sogar böse erschienen war, empfand sie in seiner stillen Andacht nun als gütig und verständnisvoll. Und dennoch kostete es sie ihren ganzen Mut, ihn sacht am Ärmel seiner schwarzen Kutte zu zupfen, um sein Gebet zu unterbrechen und seine Aufmerksamkeit auf sie zu lenken.
    Ein wenig verwirrt löste Pater Ivo sich aus seiner Versenkung in die Lobpreisung seines Herren, doch er reagierte ungewöhnlich rasch. Er sah Trine fragend in die Augen, und sie zeigte ein Wachstäfelchen vor, auf das sie einen Kopf mit dem Schleier und Gebände einer Begine gezeichnet hatte. Pater Ivo nickte, dass er verstanden hatte. Dann machte Trine eine ihn erschreckende Handbewegung zum Hals, die ihm den Tod durch Ersticken beschrieb.
    Leise und vorsichtig, ohne seine Brüder zu stören, stand der Benediktiner auf und schob dabei Trine in das Dunkel hinter den Säulen. Sie zupfte noch einmal an seinem Ärmel und deutete auf den Seitenausgang. Er folgte ihr, ohne sich umzusehen. Draußen war es heller als im Inneren der Kirche, und Trine zückte wieder ihre Tafel. Sie malte ein Haus und deutete mimisch Gestank an. Es dauerte eine Weile, bis Pater Ivo verstand, was sie meinte, denn auch mit dem Fratzengesicht und dem hinkenden Gang konnte er zunächst nichts anfangen. Darum zeigte Trine in die Richtung und lief los. Er folgte ihr, noch immer rätselnd, wo und in welcher Gefahr sich die Begine befand, doch die offensichtliche Dringlichkeit und die bebende Angst im ausdrucksvollen Gesicht des stummen Kindes waren ihm Grund genug, eine echte Bedrohung anzunehmen. Als sie in die Mühlengasse einbogen, erkannte er, wohin Trine ihn führte, und seine Gedanken überschlugen sich. Wenn das, was er vermutete, stimmte, dann schwebte diese aufsässige Begine wahrhaftig in Lebensgefahr!
    Sie erreichten das Haus de Lipas, und Pater Ivo klopfte hart ans Tor. Hausherren und Gesinde waren in der Zwischenzeit wieder zurückgekehrt, und Grit, die Magd, öffnete ihnen.
    »Ruf deinen Herren, Mädchen. Schnell!«, befahl Pater Ivo, während Trine schniefend und schnüffelnd neben ihm stand. Dann zerrte sie plötzlich heftig an seinem Ärmel und wies auf die Kellertreppe. Mühsam keuchte sie und versuchte, den Benediktiner dorthin zu ziehen.
    »Kind, langsam!«, sagte er und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter.
    »Was gibt es, Pater Ivo, dass Ihr zu so später Stunde bei uns vorsprecht?«
    Hermann de Lipa, in einem kostbaren Hausgewand, kam langsam die Treppe herunter. Man sah ihm die Schwäche nach seinem Anfall noch an, doch er hielt sich aufrecht und schien ungehalten zu sein.
    »Wo ist die Begine, de Lipa?«
    »Was weiß ich? Bei ihren Schwestern, nehme ich an.«
    »Nein. Sie muss bei Euch gewesen sein. Dieses Kind hier vermisst sie.«
    »Und sucht sie hier? Ist das nicht die taubstumme Kreatur aus dem Konvent? Woher wollt Ihr wissen, was sie meint?«
    »Sie kann sich sehr wohl

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