Der dunkle Spiegel
Gesicht. Doch Jean bäumte sich nur noch einmal mit letzter Anstrengung auf, dann brach ein Schwall Blut aus seinem Mund, und er glitt aus den Armen des Mannes, der ihn gehalten hatte.
Fassungslos starrte de Lipa auf den leblosen Körper, dann fuhr er die Begine heftig an: »So tut doch etwas! Ihr seid doch in der Krankenpflege versiert.«
»Dann lasst mich auch zu ihm!«, sagte Almut ruhig und schob den Weinhändler beiseite. Er trat zögernd an das offene Fenster und sah auf die Gasse hinaus.
Jean hatte die Augen geschlossen, und als Almut nach seinem Herzschlag tastete, konnte sie keinen Puls mehr finden. Auch die Brust hob und senkte sich nicht mehr. Suchend schaute sie sich um, und ihr Blick fiel auf den kleinen Silberspiegel. Sie nahm ihn und hielt ihn dicht an die Lippen des jungen Mannes, in der Hoffnung, dass doch noch ein feuchter Atemhauch die glänzende Fläche beschlagen würde. Ohne große Hoffnung nahm sie ihn dann von seinem Mund weg und blickte hinein. Fast hätte sie ihn zu Boden fallen lassen, so sehr erschreckte sie, was sie sah.
Der silberne Spiegel war vollständig schwarz geworden.
Ein unkontrolliertes Zittern überkam Almut, und mit fahrigen Händen schob sie den Spiegel in ihre Tasche. Dann sah sie zu dem Weinhändler hin, der die Hände auf dem Rücken verkrampft hatte und hinunter in die Gasse starrte. Seine zuckenden Schultern zeigten ihr, dass er mit dem Schluchzen zu ringen hatte. Sie selbst war in diesem Moment jedoch nicht in der Lage, ihm auch nur ein einziges tröstendes Wort zu sagen.
Wieder hörte Almut Schritte vor der Tür, und als sie sich öffnete, trat ein hochgewachsener Mönch in schwarzer Kutte ein. Ihm folgten Thea und Dietke.
»Pater Ivo, der Beichtvater des Jungen.«
»Wie geht es Jean?«, fragte er in Richtung de Lipa, aber als er das blutbefleckte Bett sah, drehte er sich zu Almut um.
»Er ist von uns gegangen, Pater.«
Der Mönch schlug stumm ein Kreuz und wollte zu dem Weinhändler treten, doch dieser drehte sich abrupt um und fragte mit vor Schmerz gebrochener Stimme die Beginen: »Was habt Ihr ihm gegeben? Womit habt Ihr meinen Jean vergiftet?«
»Wir haben ihm nichts gegeben, was ihm schaden konnte, Herr«, versuchte Thea ihn mit ruhiger Stimme zu besänftigen.
»Lügnerin! Sie da hat selbst gesagt, dass das Medikament ein Gift enthält!«
»Ich habe gesagt, wenn man es zu hoch dosiert, wirkt es giftig!«, ereiferte sich Almut, und Thea legte ihr mahnend die Hand auf die Schulter.
»Dann habt Ihr es zu hoch dosiert! Warum sollte Jean denn sonst sterben.« De Lipa schluchzte fast. »Gestern ging es ihm doch schon wieder so gut!«
»Beruhigt Euch, de Lipa!«, sagte der Mönch mit tiefer Stimme. »Ihr seid erregt und wisst nicht, was Ihr sagt.«
»Ich weiß, was ich sage. Ich weiß, was ich gehört habe! Raus hier! Alle.«
»Ich werde für den Jungen die Totengebete sprechen. So lange werde ich hier bleiben«, sagte Pater Ivo.
Hölzern bewegte de Lipa sich vom Fenster weg und wies Dietke und den beiden Frauen mit herrischer Gebärde die Tür. Er selbst folgte ihnen aus dem Raum.
An der Treppe drehte sich Thea zu ihm um.
»Wenn Ihr wollt, werden wir bleiben und Euch helfen, den Verstorbenen herzurichten.«
»Ich will Euch Giftmischerinnen hier nicht mehr sehen!«, brüllte der Weinhändler unbeherrscht los. »Ihr seid schuld an seinem Tod! Raus hier, raus, bevor ich Euch selbst die Treppe hinunterwerfe!«
»Geht! Schnell!«, flüsterte Dietke und lief eilig voraus. Die beiden Beginen folgten ihr, und als sie die Haustür öffnete, verließen sie grußlos das Haus.
Den Rückweg schwiegen diesmal beide, und Almut war froh, als sie das Tor zu dem Hof erreichten, der ihren Konvent beherbergte.
5. Kapitel
Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum, benedicta tu in mulieribus…« Die Glocken hatten zur Komplet geläutet, und Almut kniete in ihrer Kammer vor der kleinen Marienstatue und betete. Sie tat es aufrichtig und mit Hingabe, und langsam beruhigte sich ihr aufgewühlter Geist.
Es war nicht der plötzliche Tod des jungen Mannes gewesen, der sie so erschüttert hatte. Der Tod war ihr vertraut. Oft genug hatte sie am Bett eines Sterbenden gesessen, der ihr näher gestanden hatte als Jean de Champol. Es hing vielmehr mit dem geschwärzten Spiegel zusammen, der jetzt auf dem Bord neben der Mariengestalt lag. Rigmundis’ bedrohliche Vision war eingetreten, und Almut, die sich sonst nicht so leicht von irgendwelchen Vorhersagen beeindrucken ließ,
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