Der dunkle Spiegel
verspürte jedes Mal, wenn ihr Blick auf die schwarze Fläche fiel, einen Anflug von Furcht.
»Höre, erhabene Mutter unseres Erlösers. Wir haben ein Zeichen erhalten, von dem ich glaube, dass es uns ein Unglück bedeuten will. Ich habe in den dunklen Spiegel geschaut, und nun, Maria, sucht mich das schreckliche Gefühl heim, eine Schuld auf mich geladen zu haben. Ich weiß zwar nicht, worin sie bestehen könnte, denn der Tod kam zu dem Jungen ohne mein Dazutun. Aber ich ahne irgendwie, dass uns etwas Böses daraus erwachsen wird. Ich bitte dich, Mutter der Barmherzigkeit, sei gnädig zu uns. Ich habe hier ein Heim gefunden, das meiner Seele Frieden und meinem Geist Freiheit schenkt. Ich lebe in einer Gemeinschaft von Frauen, die ich achte und liebe. Es soll ihnen durch mich kein Schaden entstehen. Ich weiß, ich bin oft so ungeduldig mit den Dummen. Bitte, heilige Maria, hilf mir, duldsam und demütig zu sein und in der Kirche den Mund zu halten.«
Flehentlich hob Almut die Hände und sah zu dem bronzenen Gesicht auf, das mit einem wissenden Lächeln auf sie blickte.
»Ach – Mist, Maria. Ich werde es nie lernen! Und du weißt das ganz genau. Aber vielleicht kannst du mir auf andere Art helfen. Mir ist nicht wohl dabei, dass dieser Weinhändler uns im Beisein des Priesters als Giftmischerinnen bezeichnet hat. Du weißt ja, wie schnell man bei denen in Verruf gerät. Und noch mal – Mist, Maria! Ich bin jetzt entsetzlich misstrauisch geworden und habe Angst. Womöglich war in der Arznei doch etwas enthalten, das dem Jungen geschadet hat. Weißt du, Elsa ist ja wirklich eine gute Kräuterfrau, aber sie war krank an dem Tag und hatte böse Zahnschmerzen. Was, wenn sie mir ein falsches Mittel mitgegeben hat? Oder die falsche Dosierung genannt hat? Mein Gott, Maria, wenn das wahr wäre, dann wäre der schwarze Spiegel wirklich ein böses Omen. Ich werde morgen mit Elsa darüber sprechen müssen. Aber das wird nicht leicht sein. Sie lässt Kritik nicht leicht gelten, und ich finde nicht immer die richtigen Worte. Könntest du mir nicht doch zu ein bisschen mehr Geduld und Zurückhaltung verhelfen, göttliche Mutter? Ich meine, ich will Elsa ja nicht verärgern. Aber wir sollten schon gewappnet sein, wenn da irgendwer Klage gegen uns erhebt.«
Almut sah hoffnungsvoll zu der Maria auf, die mit einer Hand ihren Sohn auf dem Knie hielt. In der anderen Hand hielt sie ein Kreuz. Oder zumindest so etwas Ähnliches. Das Abendrot malte Schatten auf ihrem Gesicht, und es schien, als höre sie nachdenklich zu. Wahrscheinlich tat sie das auch.
Almut schwieg und ließ ihre Gedanken ruhen. Ihre Augen schweiften von der Mariengestalt zum geöffneten Fenster. Dort, über dem Grün der Weingärten und Wiesen, ging im Westen die Sonne wie ein brennender Ball unter und ließ einige Wolkenstreifen gegen das blasse Blau des Himmels rot aufflammen. Eine Amsel sang ihr Abendlied in dem alten Apfelbaum vor der Mauer, und einige Schwalben jagten in wilden Sturzflügen nach den Insekten, die sich in der warmen Abendbrise tummelten. Irgendwo blökte eine Kuh, und aus dem Hof klang das träge Gackern eines müden Huhns empor. Almuts Blick verlor sich in der Ferne. Sie sah nicht mehr die blauschattigen Hügel und den langsam sich violett färbenden Horizont. Sie sah die Bilder des Tages vor sich, jetzt ohne die Beklemmung, die zuvor ihr Herz umklammert hatte.
Als sich die ersten Sterne mit ihrem zarten Flimmern bemerkbar machten und die Schatten in den Zimmerecken wuchsen, wandte sie sich vom Fenster ab.
»Allerdings frage ich mich wirklich, warum sich der arme Junge so vor der Hölle gefürchtet hat. Einer kalten, dunklen Hölle. Er muss ein sehr schlechtes Gewissen gehabt haben. Na ja, wahrscheinlich werden wir das jetzt nicht mehr herausfinden. Darum, heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.«
Es war zu dunkel, um Marias Gesicht zu erkennen. Doch Almut hatte nicht ganz zu Unrecht befürchtet, dass der Gefühlsausbruch des Weinhändlers Folgen haben würde. Nicht nur Pater Ivo hatte die Anklage gehört, auch anderen war sie zu Ohren gekommen.
6. Kapitel
Selbstverständlich hatten Thea und Almut mit der Meisterin über diesen Vorfall gesprochen, und diese hatte die beiden zunächst einmal beruhigt.
»Ihr wisst doch, im ersten Schmerz äußern sich die Menschen oft in übertriebener Form. De Lipa wird sich schon noch besinnen. Er muss sehr an dem jungen Mann gehangen haben. Waren
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