Der dunkle Spiegel
Beklommenheit ab und nahm das Gespräch mit Thea auf. Sie war sich ihrer Gefühle der älteren Frau gegenüber nicht ganz schlüssig. Deren scharfe Bemerkungen konnten überaus verletzend sein, und ihr respektloser Zynismus hatte sie schon manches Mal erschüttert. Theas hauptsächliche Aufgabe in ihrer Gemeinschaft war es, den Totendienst zu verrichten. Die Beginen wurden oft zu Schwerkranken und Sterbenden gerufen, teils, um sie zu pflegen, oft aber auch, um sie in den letzten Stunden mit ihren Gebeten zu begleiten. Sie sorgten auch für die Herrichtung und Aufbahrung der Verstorbenen und hielten die Totenwache. Thea zeichnete sich besonders darin aus, die Totenklage zu halten, und war damit häufig zur Teilnahme an Beerdigungen verpflichtet. Auch die anderen Beginen übernahmen diese Aufgabe, denn daraus bezog der Konvent einen Teil seiner Einkünfte, genauso wie aus dem Abhalten der Jahrzeiten, der Jahres-Gedenktage mehr oder minder geliebter Toter. Sie nahmen diese Pflichten durchaus ernst und beteten aufrichtig für das Seelenheil der Verstorbenen, doch tief empfundene Trauer gehörte in den seltensten Fällen zu ihren Gefühlen. Thea hingegen konnte eine geradezu überwältigende Darstellung einer Schmerzzerrissenen geben, weshalb sich Clara häufig zu der Bemerkung hinreißen ließ, Heulen und Zähneklappern seien Theas höchste Berufung.
»Lerne klagen, ohne zu leiden«, war Theas trockene Replik darauf, und wer ihren sonstigen Reden lauschte, konnte leicht zu dem Schluss kommen, sie sei inzwischen völlig empfindungslos menschlichem Leid gegenüber.
»Was erwartet uns bei dem Weinhändler? Steht der Mann mit der Sense schon bereit?«
»Ich glaube nicht. Der junge Jean hatte einen starken Husten, aber daran stirbt man gewöhnlich nicht. Wir fragen aber dennoch nach seinem Befinden.«
»Das ist alles?«
»Nein, außerdem möchte die schöne Dame des Hauses eine Flasche des besagten Duftwassers, dessen Herstellung uns in Maßen erlaubt ist!«
»Oh, du hast es dabei? Lass mich mal daran riechen.«
»Aber bestimmt nicht. Du hast gehört, dass wir allem weltlichen Tand abgeschworen haben. Außerdem ist die Flasche versiegelt!«
»Kein weltlicher Tand, wissenschaftliches Interesse, Almut. Ich muss doch wissen, womit unsere Apothekerin meine Kunden vergiftet.«
»Pass nur auf, dass dir niemand zuhört! Frag Elsa danach, sie hat noch mehr davon.«
»Wie kam sie dazu?«
»Eigentlich war es mein Fehler. Ich hatte die Kräuter für die Tinktur verwechselt. Na ja, und dann hat Trine noch experimentiert. Sie ist ja so versessen auf Gerüche! Jetzt ist es eine Mischung aus Rosmarin, Rosenöl und ein paar Rosenblättern.«
Sie unterhielten sich darüber, bis sie de Lipas Haus erreichten. Auf ihr Klopfen öffnete ihnen eine rundliche Magd, die sie höflich hineinbat, als Almut nach der Hausherrin fragte. Dietke de Lipa erschien nach kurzer Zeit, an diesem Tag in ein aprikosenfarbenes seidenes Obergewand gekleidet, dessen tiefe Ärmelausschnitte und Halsausschnitt eine golddurchwirkte Borte zierte. Die rosige Farbe ließ ihren Teint sanft erglühen. Sie begrüßte die Beginen jedoch mit ernster Miene.
»Ich habe Euch von dem Duftwasser mitgebracht, nach dem Ihr Euch am Sonntag erkundigt habt!«
»Oh, das ist wundervoll. Zeigt her.«
Neugierig entfernte Dietke den Verschluss und schnupperte an dem Flaschenhals. Zufrieden nickte sie.
»Ihr könnt es zusammen mit der Arznei bezahlen!«, schlug Almut vor, die diesmal vorrangig die Geschäfte abwickeln wollte.
»Rudger!«, rief die Hausherrin in den Raum hinein. »Rudger, unser Haushofmeister, wird Euch geben, was notwendig ist. Mich entschuldigt Ihr bitte. Ich habe noch zu tun.«
»Vielen Dank. Nur eine Frage noch – wie geht es dem Kranken? Hat sich sein Husten gebessert?«
»Oh, anfangs glaubten wir beinahe an ein Wunder. Doch heute geht es ihm wieder schlechter. Er scheint sehr erschöpft zu sein. Wenn Ihr wollt, schaut nach ihm. Grit wird Euch zu seinem Zimmer geleiten.«
Sie nickte zum Abschied und verschwand im hinteren Teil des Hauses. Rudger, der Haushofmeister, trat hinkend herbei. Almut, die ihn zwar schon einmal flüchtig gesehen hatte, musste sich zusammenreißen, um ihm nicht in das entstellte Gesicht zu schauen. Ihn schien eine starke Erkältung zu plagen, denn seine Augen waren gerötet, und er zog geräuschvoll die Nase hoch, als er einige Münzen abzählte und sie der Begine reichte. Es war in etwa der Betrag, den Elsa ihr genannt hatte, und
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