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Der dunkle Spiegel

Titel: Der dunkle Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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Gelehrte, ihre größte Freude im Leben war ein neues Buch. Sie besaß die erstaunliche Menge von dreiundzwanzig Bänden, und sie beherrschte, anders als die meisten Frauen, auch die lateinische Sprache und sogar recht gut die fränkische. Ihr heimlicher Ehrgeiz bestand darin, die Bibel zu übersetzen, nicht, um sie in Frage zu stellen, sondern um sie zu verstehen. Clara war gottesfürchtig und tief religiös, andererseits machte ihr scharfer Verstand es ihr unmöglich, manche Widersprüchlichkeiten einfach hinzunehmen. Und so verbrachte sie manche Stunde damit, mit Almut über diese Dinge zu disputieren. In ihr, die zwar weniger gebildet, aber intelligent und sehr wissbegierig war und über einen ausgeprägten Realitätssinn verfügte, hatte sie eine ebenbürtige Gesprächspartnerin. Doch die Zweifel und Einsichten, die aus dieser kritischen Auseinandersetzung mit etlichen Glaubensfragen erwuchsen, hatten Almuts Weltbild zwar erweitert, führten aber leider auch dazu, dass sie des Öfteren mit ihrer eigenen Meinung herausplatzte, die nicht immer im Einklang mit der offiziellen kirchlichen Lehrmeinung stand. In Gegenwart der Geistlichkeit war sie damit mehr als einmal unangenehm aufgefallen, wohingegen Clara in solchen Situationen stets einen schafsähnlichen Gesichtsausdruck aufsetzte und erst in der Sicherheit der eigenen vier Wände ihre Kommentare zu der erschreckenden Unwissenheit der Kleriker von sich gab.
    Almut schenkte den Werkzeugen der Gelehrten keinen weiteren Blick, sondern begab sich zu ihrer Kammer hinauf, um sich für den Besuch bei de Lipa vorzubereiten. Die Magd hatte ihren Wasserkrug frisch aufgefüllt. Sie wusch sich die Hände und prüfte, ob ihr Schleier korrekt saß und ihr Gebände das Haar vollständig bedeckte. Anschließend suchte sie das Nachbarhäuschen auf, das an das ihre grenzte. Dort wohnten Elsa und Trine; der untere große Raum diente der Apothekerin als Herbarium und Arbeitsbereich. Sie trocknete hier ihre Kräuter, stellte Arzneimittel her, kümmerte sich um die Zubereitung des Claret, des gewürzten weißen Weines, und behandelte hin und wieder die Kranken, die ihre Hilfe erbaten. Und das waren nicht nur die Beginen selbst, sondern auch eine Reihe von Bürgern und Bauern, die ihre Kenntnisse denen der städtischen Ärzte, Bader und Barbiere vorzogen.
    Elsa war schon ausgegangen, aber da Almut sich in der Apotheke mittlerweile einigermaßen auskannte, fand sie schnell, was sie suchte. Neben dem Destillierkolben, in dem sie die Lavendel-Tinktur hergestellt hatte, befand sich eine Flasche mit dem Duftwasser. Sie füllte sorgsam ein Krüglein ab und schnupperte daran. Es roch anders, vielleicht sogar besser. Sie verschloss es dicht und steckte es in ihre Gürteltasche. Trine kam herein, einen Korb voller Rosenblätter im Arm, und machte ein glückliches Gesicht. Sie deutete auf den Alambic, dann auf die Rosenblätter und auf eine kleine Phiole aus wertvollem venezianischem Glas, die das kostbare Rosenöl enthielt.
    »Oh, Rosen – das war der neue Duft daran. Sehr schön, Trine!«
    Almut winkte dem Mädchen zu und ging dann auf Thea zu, die schon an der Pforte auf sie wartete.
    Die beiden grau gewandeten Beginen schritten zügig durch die Stadt und ließen sich von dem lebhaften Treiben um sie herum nicht ablenken. Schwer beladene Fuhrwerke rollten zum Rheinhafen hinunter, Händler und Krämerinnen boten ihre Ware feil, unter den vorspringenden Erkern der engbrüstigen Fachwerkhäuser hatten die Handwerker Läden geöffnet, gingen ihrer Arbeit nach oder verkauften, was sie hergestellt hatten.
    »Was ist los, Almut? Du bist so still. Haben dich die Ermahnungen unserer Meisterin so betroffen gemacht? Soll ich raten – du hast ein schlechtes Gewissen, weil du deinen Mund während der Messe wieder mal nicht halten konntest.«
    »Mir fehlt bedauerlicherweise die Geduld mit Dummköpfen. Wenn nur Clara mir nicht tags zuvor ihre neuesten Übersetzungen aus den Paulus-Briefen zu lesen gegeben hätte!«
    »Ja, ja, die Priester haben wahrscheinlich schon Recht, wenn sie uns Frauen verbieten, die Bibel zu lesen.«
    Theas Ton war so pathetisch, dass Almut sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen konnte. Ihre nach innen gekehrte Schweigsamkeit hatte jedoch nicht eigentlich mit der Zurechtweisung zu tun, sondern eher mit dem unerklärlichen Unbehagen, das Rigmundis’ Vision in ihr ausgelöst hatte. Aber hier im hellen Sonnenschein, mitten in der geschäftigen Stadt, schüttelte sie die

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