Der dunkle Spiegel
Wenn Bruder Johannes anfing zu fragen, dann müsste sie sicherlich vieles preisgeben, was ihre Mitschwestern betraf. Elsas panische Angst kam ihr wieder in den Sinn.
»Pater Ivo, ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Taten.«
»Ich weiß, Kind. Dann lasst mich Euch noch ein paar Fragen stellen, die Ihr mir bitte ehrlich beantwortet.«
»Ja, stellt sie.«
»Ihr zitiert Bibelstellen, und Ihr verwendet den Wortlaut in unserer Sprache. Woher kennt Ihr ihn?«
»Eine… Freundin übersetzt manchmal einige Stellen.«
»Eine belesene, gebildete Begine, die auch in den Spiegel der armen Seelen blickt, nehme ich an. Was hat sie für Euch übersetzt?«
»Vor einiger Zeit, na ja, da hat sie mit der Schöpfungsgeschichte begonnen.«
»Nicht nur sie, wisst Ihr. Damit fing alles an.«
Almut atmete ein wenig befreiter ein, Pater Ivo schien nicht besonders entsetzt zu sein.
»Dann kam Weihnachten, und sie wurde von unserer Meisterin gebeten, uns den Wortlaut der Geburt Christi vorzulesen. Es war sehr schön.«
»Das glaube ich. Folgte die Passion?«
»Ja, zu Ostern.«
»Und zu Pfingsten kam der heilige Geist über Euch?«
»Nein.«
»Nicht? Was unterbrach diesen logischen Ablauf?«
»Rigmundis’ Vision.«
»Ah, Ihr habt eine Seherin unter Euch? Ich vermute, es folgten die Apokalypsen?«
Almut hielt sich die Hand vor den Mund, um ihr Lachen zu ersticken, doch es wollte ihr nicht recht gelingen. Ihre Stimme klang ziemlich unsicher, als sie antwortete: »Nein, obwohl von feurigen Drachen die Rede war. Aber Pater Leonhard, unser Priester, machte Rigmundis Vorwürfe wegen ihrer Prophezeiungen, aber Clara fand eine Stelle in der Bibel, die sie rechtfertigte.«
»Interessant. Sprecht!«
»›Wer aber prophetisch redet, der redet den Menschen zur Erbauung und zur Tröstung!‹, sagt Paulus zu den Korinthern.«
»Die Korintherbriefe, aha! Daher also auch die passenden Worte des Apostels während der Messe.«
»Na ja, ganz passend waren sie nicht.«
»Nein, die Stelle, die besagt, dass die Frauen in der Gemeinde zu schweigen haben, ist Euch offensichtlich entgangen.«
»Denn unser Wissen ist Stückwerk…«
»Sagt Paulus. Wie wahr! Hat sie noch mehr übersetzt?«
»Nein, zumindest nichts, was sie mir zu lesen gegeben hätte. Obwohl – gestern zitierte sie etwas für mich Neues. Über einen Mann mit Haaren schwarz wie ein Rabe und Wangen wie Balsambeete oder so.«
»Gab es einen Anlass, das Hohe Lied zu singen?«
»Oh, ein schöner Mann begegnete uns. Daran ist doch nichts Ketzerisches, oder?«
»Schönheit soll man immer würdigen. Ich fürchte nur, dass Bruder Johannes die Verwendung von Bibelworten in diesem Sinne anders bewerten würde. Sagt Eurer Freundin, sie soll ihre Übersetzungen an einen sicheren Ort bringen. Auch ihre Bücher.«
»Das werde ich tun.«
»Habt Ihr sonst noch etwas in Euren Häusern, das Anlass zu Misstrauen geben könnte?«
»Elsa, unsere Apothekerin, wollte gestern sämtliche Kräuter und Arzneien verbrennen.«
»Nicht nötig, sofern sie nicht wirklich Gift mischt.«
Almut überlegte, ob ihr noch etwas Anstoß erregendes einfiel, und beklommen sah sie plötzlich den dunklen Spiegel vor sich, den sie aus Dietkes Haushalt mitgenommen hatte.
»Ich… also, ich habe noch etwas in meinem Zimmer. Ich werde es Euch zeigen.«
Sie hatten das Tor erreicht, und Mettel öffnete auf ihr Klopfen.
»Almut, da bist du ja. Die Meisterin ist sehr ungehalten über dich. Du sollst sofort zu ihr kommen.«
Aber das war nicht nötig, Magda kam eben über den Hof und blieb vor Almut stehen.
»Ich grüße Euch, Frau Meisterin«, sagte Pater Ivo, bevor diese den Mund öffnen konnte. »Diese Begine hatte das dringende Bedürfnis zu beichten und hat mich aufgesucht. Bitte verzeiht ihr den Regelverstoß. Wenn die Seele Erleichterung sucht, muss man ihrem Ruf folgen.«
»Nun gut, Pater Ivo. Ich will noch einmal darüber hinwegsehen. Aber sprechen muss ich dich dennoch, Almut. Komm nach der Sext in mein Zimmer.«
»Ja, Magda. Aber ich habe Pater Ivo noch etwas in meiner Kammer zu zeigen.«
»Lass aber die Tür geöffnet, Almut!«, warnte Magda und setzte ihren Weg zum Brunnen fort.
»Wenn Ihr mir jetzt bitte folgen würdet.«
Pater Ivo betrat hinter Almut das Häuschen, das sie sich mit Clara teilte. In dem unteren Raum saßen fünf kleine Mädchen, die eifrig ungelenke Buchstaben auf Wachstäfelchen ritzten, die ihnen von ihrer Lehrerin aufgegeben worden waren. Den beiden Eintretenden nickten
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